„Und, hast du die neue Adresse“, drängte Hartung sie.
Tilly lächelte, aber der genossene Alkohol verzog ihren Mund zu einer Grimasse.
Hartung war verärgert. „Und dass der Burger weitergezogen ist, das verkaufst du mir als Sensation.“ Und lässt dich als Bonus sozusagen von mir den ganzen Abend aushalten, dachte er. Hartung war entrüstet über ein solches Verhalten.
Thereses Gesichtsmuskeln wurden langsam weicher und die Verzerrung ihrer Wangen wurden einem Lächeln immer ähnlicher. „Warte ab, damit hast du überhaupt nicht gerechnet.“
Was Therese Schüllkamp herausgefunden hatte war jeden Euro wert, den er heute in sie investiert hatte. Instinktiv beschoss er, diese Information noch länger für sich zu halten. Sie rechtfertigte die durch die mit der Verzögerung steigenden Kosten. Darin eingeschlossen war der Service des Ins-Bett-Bringens.
Schermbeck
Die Sonne hatte sich gegenüber den Wolken der Vortage endlich einmal durchgesetzt. Die Strahlen des Zentralgestirns wärmten nicht nur den Radfahrer, der mit gemächlicher Geschwindigkeit den Weg hinter der Ziegelei einschlug. Die Sonne setzte auch in den Pflanzen ungeahnte Kräfte frei. Die Durchfahrt im Waldheideweg war zwar für Pkws verboten. Dennoch gab es viele Leute, die ihn entlang fuhren, um so waldnah parken zu können. Unverständlicher Weise begann für diese Besucher der Waldspazierung erst mit dem Betreten der Waldwege. Für das Erreichen des Parkplatzes durfte keine Zeit und keine Kalorie verschwendet werden. Aber diesmal war keiner unterwegs, der die Ruhe des Waldes suchte. Entweder war es zu früh oder die Leute hatten heute anderes zu tun.
Hansen trat kräftig in die Pedalen seines Fahrrades. Ein bisschen Anstrengung tat ihm gut. Die Krawatte mit den blassroten Streifen war aus der dunkelblauen Anzugjacke geschlüpft und pendelte im Takt der strampelnden Beine an seinem Hals. Eine kleine Schicht feiner Scheißperlen bildeten sich auf der Kopfhaut und reflektierten das Sonnenlicht. Er würde sich nie über die Empfänge beschweren, zu denen er musste. Sie gehörten zum Tätigkeitsbereich eines Bürgermeisters und dieses Amt hatte er gewollt. Aber manchmal wünschte er sich doch auf einen anderen Stern. Was den Leuten so alles einfiel, wenn sie Ansprachen halten wollten oder mussten. Wenn man die Rede noch ablas, das leuchtete Hansen noch ein. Nicht jeder war wie er mit der Gabe gesegnet, aus dem Stehgreif Reden halten zu können. Schlimm fand er nur, wenn dieses Ablesen monoton vor sich ging und das bei Texten, die rednerisch nicht aufbereitet waren. Wenn dann der Vortragende noch nuschelte oder aus Nervosität leise sprach, dann war das Maß des Zumutbaren eigentlich erreicht. Aber wenn man durch Wählerstimmen sein Einkommen bestritt, dann durfte man nie meckern. Immer ein zufriedenes Gesicht machen, das war die Devise. Die danach gereichten Bierchen waren dann wieder der angenehmere Teil solcher Einladungen. Bier war sein Lieblingsgetränkt und dies wusste man. Da er aufgrund seiner Konstitution auch einiges vertragen konnte, galt er als trinkfest. Er achtete aber stets darauf, dass die Wirkung des Alkohols bei ihm nicht einsetzte. Normalerweise gehörte ein Dienstwagen zu seinem Amt. Aber er machte wenig Nutzen davon. Der Fahrer hatte auch Fahrten im Auftrage der Gemeinde zu unternehmen.
Wenn Hansen darauf bestand, gefahren zu werden, dann wurden seine Belange vorgezogen. Aber heute verbot es sich eh. Sowohl war die Entfernung vom Rathaus zum Waldheideweg gering, als auch in diesem Fall konspirativ.
Hansen liebte seine Gemeinde. Er genoss ihren dörflichen Charme und die weiten Wiesen und Felder, die diesen Ort umrahmten. Wenn dies tägliche politische Geschäft ihn zu viel beutelte, dann begab er sich ins Grüne. Mit dem Rad war er in wenigen Minuten dem Ortskern entschwunden und befand sich hier im Grünen. Er begrüßte es, dass der Gesetzgeber das Bauen hier untersagt hatte, sonst würden hier an jeder Stelle Bauwerke entstehen. Dieser gesetzliche Vorbehalt war der Grund, warum in Ortsgebiet Schermbeck die Bebauungsflächen begrenzt waren. Als Bürgermeister und im Interesse seiner Wähler musste er zwar gegen diesen Irrsinn wettern, aber im Grunde seines Herzens war er froh, dass er daran nichts ändern konnte.
Dieses Hochgefühl verschwand aber, als er über den Zweck seines Radelns grübelte. Wenn er an Baselitz dachte, dann beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er war ein Mensch, der immer nur seinen Vorteil sah. Hätte jemand Baselitz als Egoisten bezeichnet, Hansen hätte nicht widersprochen. In der Politik musste man auch den anderen etwas gönnen. So etwas war dem Baselitz fremd. Und was das mit diesem geheimen Treffen auf sich hatte? Wohl war ihm bei der ganzen Geschichte nicht. Hansen nahm sich vor, vorsichtig zu sein. Deshalb war es ihm recht, dass wenig Menschen unterwegs waren. Wenn man ihn hier mit Baselitz sah, dann würde dies bestimmt Gerede geben.
Er näherte sich einem Honda Civic, der auf dem rechten Randstreifen geparkt war. Das Fahrzeug hätte vom Nummernschild her einem Schermbecker gehören können, war aber leer. Auch in unmittelbarer Nähe hielt sich keine Person auf. Hansen fand die Situation auf einmal peinlich. Er zweifelte daran, ob er sich darauf überhaupt hätte einlassen sollen. Aber er war kein Mann, der schnell die Flinte ins Korn warf. Er radelte weiter, konnte aber kein weiteres Fahrzeug erkennen. Er beschloss, den Waldheideweg noch ein Stück entlang zu radeln. Dann würde er umdrehen. Einen erbosten Baselitz könnte man immer mit dem Standardargument der Zeitnot eines Bürgermeisters versöhnen. Die Bäume und Sträucher begannen, das neue Grün zu bilden. Die Luft war klar und man konnte den Geruch von Erde wahrnehmen, wenn man tief genug einatmete. In der Nähe des Parkstreifens standen diesmal keine Fahrzeuge. Hansen suchte nach achtlos weggeworfenem Müll. Befriedigt stellte er fest, dass keiner herumlag. Das Aufstellen des Müllbehälters war also doch die richtige Entscheidung gewesen. Als er an diesem vorbei kam, sah er, wie gefüllt dieser war. Er war sich sicher, der Bauhof würde sich um die Leerung kümmern.
Hansen hatte sich als Verhandlungsstrategie den Angriff vorgenommen. Er wusste ja nicht, was Baselitz im Schilde führte. Während er sich noch Gedanken machte, worüber Baselitz mit ihm reden wollte, erblickte er ein Herrenfahrrad, welches etwas vom Weg entfernt an einem Baum lehnte. Baselitz musste ihn schon einige Zeit beobachtet haben, denn er trat plötzlich auf die Straße.
„Lassen Sie uns ein paar Schritte den Weg entlang machen“, eröffnete Baselitz das Gespräch. Die langen blonden Haare waren fettig wie eh und je. Sie klebten an der Kopfhaut, als hätten sie Bedenken sonst abzufallen. Ohne zu warten, ob Hansen dem zustimmte, ging er vorweg.
Hansen bemerkte einen Trampelpfad, der in ein nahes Waldstück führte. Vielleicht war er durch den häufigen Reviergang eines Jägers ausgetreten worden. Baselitz ging wortlos vorweg. Hansen blieb nur, hinter ihm herzustolpern. Mach einigem Metern hatte er Schweißperlen auf der Stirn. Achtlos wischte er sie mit dem Handrücken weg. Weil Baselitz unbekümmert vorweg stürmte, konnte Hansen ihn betrachten. Er trug Arbeitskleidung, die aus unterschiedlichen und nicht zusammenpassenden Kleidungsstücken kombiniert war. Als der Bürgermeister wegen des unebenen Weges nach unten schauen musste, sah er, dass Baselitz zwei unterschiedliche Socken trug. Eine Situation, die Hansen nicht kontrollierte, erfüllte ihn mit Unbehagen. Er war nicht bereit, sich vorführen zu lassen. Seiner Meinung nach waren sie weit genug vom Wege entfernt. Er blieb einfach stehen und sprach den Rücken seines Vordermannes an.
„Na, dann erzählen Sie mal, was Sie so bedrückt. Vielleicht kann ich ihnen helfen.“
„Kommen Sie!“ Baselitz winkte mit den rechten Arm und ging einfach weiter.
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