Du wolltest dich freikaufen, du hast es mir gesagt, nicht geschworen, aber gesagt. Du hast es mir gesagt. Hast du mich getäuscht? Wolltest du mich nur schonen? Gab es trotzdem geheime Kriegsvorbereitungen? So geheim, dass selbst ich nichts davon erfahren durfte? Jedenfalls nicht hier, nicht in Aurichhove und auch nicht auf der Olde Borg. Wenn, dann auf einem unserer Landsitze in der Grafschaft Holland … Ich muss Ockos Vogt danach fragen; Gelderen wird es wissen.
Wenn es tatsächlich so gewesen ist, dass Ocko mit dem Herzog gegen Groningen ziehen sollte, dann ist Folkmar Allenas Angriff auf Aurichhove nicht schiere Rache für die Niederlage bei Loppersum gewesen, sondern eine Kriegsmaßnahme, die den Groningern den Rücken freihalten und helfen sollte, ihre Freiheit zu bewahren. Hat man Ocko deswegen ermordet? Weil er dem Herzog bei der Niederwerfung von Groningen behilflich sein sollte? Vielleicht hat Ocko mich belogen und der Herzog hatte ihm ein Bürgermeisteramt für Groningen zugesagt? Wollte Ocko solch ein Amt denn überhaupt haben? Möglich, weil seine Vorväter ja auch in Groningen regiert haben. Wurde mein lieber Mann ermordet, um solchen Machtzuwachs zu hindern? Ocko besaß den Ruf eines mächtigen Kriegsherrn. Ihm hätten die Groninger Schieringer kaum standhalten können. Dafür war er zu gewieft, nein, ihm wären sie nicht gewachsen gewesen.
Aber wer? Wer ermordete ihn? Wer tat es? Folkmar Allena hat keinen Vorteil von Ockos Tod und die Bahrprobe hat erwiesen, dass er daran unschuldig ist...
Ein Groninger, irgendein Groninger wird es gewesen sein, einer von den Schieringern... sicher... Oder vielleicht ist Ocko doch ganz gewöhnlich gestorben? Einfach so? Das kommt vor…
Die Töne der geborstenen Glocke von St. Marien erinnerten sie an den Glockenschlag von St. Lamberti, damals, als Ocko vor den Toren seines Schlosses in Aurichhove sein Leben aushauchte, als er die letzten Worte stammelte: ’Bruder … Widzelt … Truhe‘
Was das nur zu bedeuten hat? Warum musste Ocko gehen? Ob sein Auftrag erfüllt war? Tief durchdrungen war er vom Glauben, von seiner Sendung. Er schöpfte aus der Quelle seines Glaubens. Auch ich muß das tun. Die Kraft des Glaubens wird mir helfen, hat Embeco gesagt. Ocko habe sein Leben eingesetzt und das Leben habe er gewonnen. Hat er das? Das Leben gewonnen? Aber er ist tot… - Ach, wer bin ich, die Wege des Herrn in Frage zu stellen? - Oh, Ocko fürchtete das Fegefeuer, nichts fürchtete er mehr als das Fegefeuer... Habe ich alles getan, seine Leidenszeit dort zu verkürzen? Die heiligen Messfeiern gelten als wirksamstes Mittel. An seinem Todestag werden alljährlich drei Tage lang Messen gelesen. Habe ich genug davon gestiftet? Ich muss noch mehr tun! Ich werde das Spital besser einrichten und immer zum Jahrtag Seelwecken für die öffentliche Armenspeisung austeilen. Ich muss Ockos Seelenheil der Nachwelt ans Herz legen. Ich werde Geld stiften für die Muschelbrüderschaft, damit sie Wallfahrten machen zu Ockos Seelenheil... nach Jerusalem oder Santiago di Compostela. Rom oder Aachen? Nein, nicht Rom und Santiago, da ist Ocko selbst gewesen...
Ach, ich glaube, ich selbst muss auf Wallfahrt gehen. Das wird das Beste sein. Eine Pilgerfahrt nach... Ja, wohin eigentlich? Es fällt mir so schwer, von hier wegzugehen. Vielleicht genügt auch ein näherer Wallfahrtsort? Ich werde Kaplan Embeco fragen... Kerzen, Kerzen, grosse Kerzen muss ich stiften und ein Ewiges Licht... - Ich will nur deinen göttlichen Willen ausführen, nur deinen Willen, Herr.
Der Gedanke kam ihr, eventuell ein neues Kloster zu stiften. Klöster seien gut für die Gemeinschaftseinrichtungen des Landes, hatte Ocko ihr früher einmal erklärt. Die Familie habe nicht zuletzt auch aus diesem Grunde etliche Klöster unter ihren Schutz gestellt, und das nicht nur diesseits, sondern auch jenseits der Ems, und sie habe in der Vergangenheit des öfteren Teilhabe und monetäre Mitwirkung an so manch einer Klosterstiftung gehabt.
In der Familienchronik fanden sich etliche Hinweise darauf. Kaplan Embeco war gehalten, dem Nachwuchs all das nachdrücklich zu vermitteln. Das gehörte zur speziellen Bildung, wobei die Chronik stets zum Pflichtlehrstoff aller Familienangehörigen zählte. Die Annalen bargen umfassende und manchmal sehr überraschende Erkenntnisse. Jedes Familienmitglied musste sich dieses Wissen um der Familienehre Willen aneignen, da gab es kein Pardon. Ja, nach ihrer Einheirat in die Familie hatte auch Foelke sich damit befassen müssen. Da gab es sehr, sehr viel zu lernen. Der tiefe Einblick in das uralte Geschlecht der tom Brook beinhaltete üblicherweise gleichermaßen unterhaltsames wie auch langweiliges Wissen.
Foelke straffte sich. Ihr Blick suchte nach ihren Sprößlingen, streifte einige leicht angetrunkene Männer, deren Augen schon recht glasig wirkten. Sie winkte ihren Kindern. Sie rannten fröhlich herbei. Ocka brachte ihrer Mutter ein Sträußchen Gänseblümchen und Foelke dankte lachend, küsste ihre Lütte und steckte sich die Blumen in den Ausschnitt.
Ein Messdiener hielt schon die Tür zum Seitentürmchen auf, in welchem eine enge Wendeltreppe zur Patronatsloge hinauf führte. Foelke verschwand mit den Kindern im Seitenschiff.
Aufregend für die Kleinen, die hohen Stufen auf allen Vieren zu erklimmen. Das ging hopp, hopp. Foelke konnte kaum folgen. Die Kinder waren schon lange oben, während Foelkes Blick - und sie selbst auch - die Treppe weiter hinauf wanderte. Sie hörte Ockos 'kleines Hexlein' jauchzen vor Freude, weil sie zuerst oben angekommen war. Nun, das hieß nicht, dass sie schneller als ihr Bruder gewesen wäre, sondern nur, dass Keno sie nicht hatte überholen können auf dem schmalen Weg nach oben. Die Kinder rannten schon in die Patronatsloge, spielten Haschen um die großen Häuptlingsstühle herum. Für sie war es ein toller Spaß, die Wendeltreppe hinaufzuklettern, während Foelke sich keuchend an die Wand lehnte, als sie endlich das dritte Stockwerk erreicht hatte. Die Wendeltreppe führte nun in engeren Windungen innerhalb der Turmmauern weiter bis ganz hinauf auf den Turm. Einmal erst ist Foelke dort hinaufgestiegen, zusammen mit Ocko. Wäre er nicht dabei gewesen, sie wäre wohl nicht wieder hinunter gekommen.
Ocko... Wir haben über unser Land geschaut bis weit hinaus auf die See. Wir sahen die Segel sich wiegen und uns pfiff der Seewind um die Ohren. Und wir haben gelacht und uns geküsst...
Tränen stiegen in Foelke auf, trübten ihren Blick. Zum Glück musste sie jetzt nicht höher steigen, sonst wäre sie womöglich noch gestolpert.
Durch die neue Verglasung der schönen Fensterbogengewölbe schickte die untergehende Sonne letzte feurige Strahlen auf den Backsteinboden der herrschaftlichen Patronatsloge. Erschöpft ließ Foelke sich in ihrem Stuhl dicht an der Brüstung zum Hauptschiff nieder und faltete die Hände im Schoß. Von hier aus konnte sie die Kirche gut überblicken.
Der Gang zum Grab bedeutet mehr für mich als Gebet und Zwiesprache. Er ist für mich ebenso ein Besinnen auf die Vergänglichkeit dieser irdischen Welt. Versinnbildlicht es nicht die Hinführung auf meine eigene Sterbestunde?
Ocko erzählte mir mal, dass es auf der Insel Ischia im Mittelmeer in der Krypta von St. Immacolata Totenräume gibt, in deren Wänden sich in Stein gehauene Sitze befinden, auf denen die toten Nonnen ruhen, und an der Stirnwand thront die Äbtissin, verwesend im Kreis ihrer toten Mitschwestern. Die Novizen aber haben die tägliche Pflicht, den Totenkonvent zu besuchen. Diese klösterliche Unterweisung lehre sie die Vergänglichkeit der irdischen Welt. - Ja, auch ich habe gelernt... die Vergänglichkeit des Lebens, die Unausweichlichkeit des Todes. Sein Hinscheiden offenbart mir die Unwesentlichkeit des Leibes. Alles, was zählt, ist die unvergängliche Liebe... Eines Tages werde ich Ocko in der Krypta beisetzen lassen, damit er ein Teil seines Domes ist, den er so geliebt hat... Sein Dom, den er reichlich ausgestattet hat, sein Dom, errichtet von seinen Vorfahren, irgendwann vor hundert Jahren oder mehr… Eines Tages, wenn dein Mörder gefunden ist, werde ich deine Patronatsrechte, dein Vorrecht unter diesem Dach bestattet zu werden, in Anspruch nehmen… Nein, nicht das Backsteingrab vom Kloster Ihlow soll deine letzte Ruhestätte sein. Irgendwann, vielleicht ist es ja schon bald, wirst du hier am Altar ruhen.
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