Der Mysterienzug kam eine Weile zum Stehen. Mit der Klapper wurde das Signal für das Absetzen der Mysteriengruppe gegeben. Noch einmal tauschten die Träger. Jeder durfte die Träger ablösen, und jeder wollte die Ehre haben, einmal das Mysterienbildnis tragen zu dürfen. Fröhlich hüpfte der bucklige Ubbo zwischen den Trägern umher und foppte sie. Die anderen Träger verjagten ihn allzeit, wenn er näher kam, denn um das Mysterienbild mittragen zu können, war er zu klein geraten.
Foelkes Blicke glitten weiter hin über den Steinfries: Der Leichenzug. - Im Angesicht der Kaiser- und Königskronen, die Barbarossa einst getragen hat, lesen zwei Füchse die Totenmesse, ein Hinweis auf das Schisma der Ost- und Westkirche. Hinter ihnen läutet der Abt als Affe mit eingezogenem Schwanz das Totenglöcklein - wie doppeldeutig.
Der Kessel zum Kochen des Leichnams... Fuchs und Dachs - Papst und Kanzler - tragen den Kessel. Ja, diese beiden haben Kaiser Friedrich um Macht und Geldes Willen verfolgt.
Foelkes Gedanken schweiften ab: Oh, Ocko war so wunderschön – fast vollkommen, hätte er nicht diese Kriegsverletzungen gehabt… Als ich Ocko das erste Mal sah, verliebte ich mich in ihn. So sehr liebte ich ihn, dass ich am liebsten in ihn hineingekrochen wäre. - Sie belächelte ihre Gedanken. - Und jetzt... Ocko ist tot, für immer verloren, aber die Liebe bleibt mir, unsere Liebe. Das Leben geht weiter... Wenn er gefunden ist... Wenn der Mörder endlich gefunden ist, dann kann ich Rache üben! Blutige Rache! - Bei allen Heiligen, was habe ich für grauenhafte Gedanken! An solch einem Tag! – Mein Gott, es ist alles so schrecklich!
Erneut rannen Tränen über Foelkes Wangen. Sie wischte sie unbewußt mit dem Handrücken fort, warf noch einmal einen Blick hinauf zum steinernen Tierfries.
Die Grablegung. Ziegenböcke bereiten den Kaiser für die Grablegung vor. Ziegenböcke! Symbole für den heidnischen Kriegsgott Teutates. Die Symbolik soll das angebliche ’Heidentum’ des vom Papst als Antichristen geschmähten Kaisers aufzeigen. Ein Heide war er sicher nicht, aber Innozenz hat ihn exkommuniziert, denn Friedrich liebte die Sarazenen und beherrschte ihre Sprache in Wort und Schrift, ganz zum Entsetzen des Papstes. - Und sieh mal einer an: Der neue Kaiser steht schon bereit. - Erneut rasselte die Klapper, die Männer setzten das Mysterienbild wieder auf. - Nur natürlich, dass der Fries auf der Südseite des Doms angebracht ist. „…und dem König im Süden untertan“ heißt es in unseren Willküren, den freiwilligen Gesetzen. Auf der Seite zur aufgehenden Sonne, der Seite des Orients, befinden sich Kreuzritter und Marienbildnis. Auf der Nordseite heidnische Drachen, Ritterkämpfe und römisches Akanthusblattwerk.
- Die Prozession setzte sich wieder in Bewegung. - Ein neues Steinbild. Löwe und Schwein: Friedrich und sein Kanzler. Sie stehen einander vertraut, ja einvernehmlich gegenüber. Das Schwein war in alten Zeiten ein heiliges Tier und gilt bis zum heutigen Tage als Glücksbringer.
Der geflügelte Lukasstier. Lukas, der Physikus und Gefährte von Paulus. Hatte nicht Kaiser Friedrichs Leibarzt versucht, den Herrscher zu vergiften? - Ja, so war es. Der Papst hatte den Arzt für den Mord am Kaiser gedungen. Friedrich übte erbarmungslose Rache an ihm. Ocko erzählte mir, dass er geblendet und grauenhaft gefoltert wurde, bis er, um weiteren Qualen zu entgehen, mit aller Macht mit dem Kopf gegen die Wand gerannt ist… Nicht lange mehr hat Friedrich danach regiert. - Nach des Kaisers Tod befahl der Papst hasserfüllt: „Rottet aus Namen und Leib, Samen und Spross dieses Babyloniers!“ Und er wählte sich Karl von Anjou, seine Rache zu vollziehen und beschenkte Anjou im Vorhinein mit der Krone Siziliens.
Ein Schwan auf dem Fries, das Sinnbild der Liebe, der heilige Vogel, der die Menschen bezaubert. Er symbolisiert Konradin, den ’schönsten Jüngling unter der Sonne‘. Der Papst ließ ihn töten.
Prinz Konradin vor Gericht. Karl von Anjou läßt Konradin, der nach verlorener Schlacht in Gefangenschaft gerät, im Auftrag des Papstes verhören. Der Jüngling weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Er wird nicht als Kriegsgefangener, sondern als Verräter an der Krone behandelt, obwohl doch ihm die Krone zusteht. Das grausame Urteil: Tod durch Enthauptung. - ‚Neapel seh’n und sterben’, hat Ocko ironisch gesagt. ’Für Konradin traf das zu. Er war ein naives Schäfchen, ein Jüngling von fünfzehn Jahren, der glaubte, ungestraft in die Fußstapfen seines mächtigen Großvaters Friedrich II. treten zu können.'
Karl von Anjou triumphiert. Konradin, der letzte Staufer, durch den Tyrannen Karl von Anjou findet er den Tod. Auf dem Marktplatz von Neapel wird er öffentlich enthauptet. Karl von Anjou, der Urgroßvater von Königin Johanna von Neapel, hat das getan, der Großvater jener Königin, der Ocko lange Zeit gedient hatte. Warum tat er das? Ich habe ihn gefragt und er erklärte mir, dass Keno, einer seiner Ahnen, König Karl von Anjou auf den 6. Kreuzzug nach Ägypten gefolgt sei.
Wenig später sei er von König Karl zum Connétable ernannt worden und habe anno 1266 Karl von Anjou in der Schlacht bei Benevent als Heerführer gedient , wo er französische Truppen kommandierte.
Drei Jahre später habe Köng Karl sogar dafür gesorgt, dass Keno über das Rheiderland gebieten konnte. Seither habe seine Familie eine besonders enge Bindung zum Hause Anjou. Ja, Karl von Anjou sei ein brutaler Herrscher gewesen und sogar noch nach dem Tode des Papstes Innozenz habe sich Karl von Anjou als Rachearm der Kirche verstanden, wollte er doch das Kaiserreich von Konstantinopel erneut aufbauen… - Ocko meinte sogar, das Karl von Anjou wohl Ambitionen gehabt habe, selber dort zum Kaiser ausgerufen zu werden. Davon wurde aber nichts...
Im Takt der gemessen rhytmischen Anacata der Träger schwankte das Mysterienbild durch das Land an der Maar. Unter strahlend blauem Himmel zog der gottgefällige Zug eine schier endlose Staubfahne hinter sich her. So musste es wohl auch in südlichen Ländern sein. Wie oft hatte Ocko davon erzählt, vom blütenschweren Duft der Natur, von Kastanienwäldern und endlosen blauen Hügelketten…
Der Klang der Glocken, wenn im ganzen Land Dankgottesdienste abgehalten werden. So ist es auch nach Ockos Sieg von Loppersum gewesen. - Foelke ächzte. Italien wäre wohl nichts für sie. Sie litt unter der stechenden Sonne, unter Hitze, Staub und Durst. Dabei ging es ihr noch gut, wenn nur die Füße nicht so weh täten, wohingegen die Träger des Mysterienbildes nicht nur schwer tragen mussten, sondern obendrein noch mit dem heißen Wachs der vielen brennenden Kerzen bekleckert wurden. - Jedoch, bei aller Anstrengung bewegten Musik und Gesang die Herzen zu innerer Einkehr und Betrachtung. Nicht wenige weinten sogar vor Ergriffenheit. Da fiel es gar nicht mehr auf, dass Foelke um ihren geliebten Ehemann weinte.
Georgsfeld! – Ist es hier gewesen, wo sich in alten Zeiten viele tausend Kreuzfahrer unter dem Banner des Schutzheiligen der Ritter, dem Heiligen Georg, versammelt haben? Wo sie Absolution und Segen für das gefahrvolle Unterfangen erhielten? Damals ist der Dom von Sankt Marien noch eine Baustelle gewesen. Nun ja, jetzt ist er es immer noch oder schon wieder. Ein Dom wird niemals fertig. Stets gibt es etwas auszubessern, anzubauen, neu zu gestalten. Der Dom, ein Abbild der göttlichen Schöpfung, die sich ja ebenfalls ständig verändert und erneuert… Wie mächtig das Gotteshaus aufragt! Mit Recht ist es Ockos ganzer Stolz gewesen.
Nun wurde das Mysterienbild zurückgetragen zum Dom von Sankt Marien. Kies und Muschelgrus knirschte unter den Füßen. Schon neigte sich der Tag, Abenddämmerung brach an. Die untergehende Sonne überschüttete das nahe Wäldchen mit rosigem Licht. Das grüne Blätterdach hüllte den Waldboden in Schatten. Über den Wiesen breiteten sich schüttere Nebelschleier aus, prächtig glitzernd im mystischen Licht der letzten Sonnenstrahlen.
Читать дальше