Selbstvergessen schloß Foelke den Deckel der Truhe, ehe sie ihn erneut aufschlug. Sie wußte, dass sich nun die Zeit dem Ende näherte, in der ihr Gemahl im Dom ausgestellt bleiben konnte. Tagtäglich kniete sie an Ockos Hochgrab und betete für sein Seelenheil. Natürlich wußte sie, dass dort nur die Rüstung mit der ausgestopften Stoffpuppe auf dem Paradebett lag, aber an diesem Ort der Stille fühlte sie sich ihm trotzdem nahe.
Die Estrade, unterstützt von einigen Pilastern, führte einige Stufen hoch, die Stützen waren umwunden mit kostbarem Samt und goldenen Tressen, an denen Wappen, kleine Heiligenstatuen und dergleichen hingen. Über all der Pracht spannte sich ein roter Baldachin. Dieses Hochgrab mit dem kostbaren Paradebett, es würde Foelke fehlen. Ockos Leichnam war längst in die Familiengruft der Basilika des Klosters Ihlow gesenkt worden und doch fühlte Foelke sich ihrem Gemahl hier im Dom von St. Marien näher als im Kloster, denn dort lasen die Mönche tagtäglich Seelmessen und an der Gruft beteten etliche Seelfrauen. Dadurch fühlte sie sich im Kloster Ihlow beträchtlich gestört in ihrer Andacht und kam sich irgendwie sogar überflüssig vor.
Jenes Quäntchen Ungewissheit, welches den Tod ihres Gemahls mit einem geheimnisvollen Schleier umgab, stritt tagtäglich mit wechselnden Mutmaßungen in ihr. Vielleicht war Ocko ermordet worden, aber Folkmar Allena, der mächtige Häuptling und Heerführer aus Groningen, den man angeklagt hatte, Verursacher des Mordes gewesen zu sein, konnte sich mittels Bahrprobe reinwaschen. Kein Zweifel blieb offen, denn ’frei von Schuld’ lautete das Gottesurteil. Dennoch stand eines fest, Folkmar Allena würde diese grauenvolle Demütigung, die ihm durch die Bahrprobe widerfahren war, nie im Leben verzeihen, Widzelt nicht, ihr nicht und selbst ihren Kindern nicht. - Vielleicht, diese Möglichkeit musste Foelke ins Auge fassen, war ihr Gemahl doch eines natürlichen Todes gestorben - einfach so, weil ihn das böse Geschehen rund um die Friedensverhandlungen mit Folkmar Allena aufgebracht und überreizt hatte, denn Folkmar hatte Bedingungen gesetzt, Bedingungen, die kaum erfüllbar gewesen waren. Immerhin - man sprach davon, dass Ocko sich ans Herz gefasst habe, bevor er in die Arme seines Widersachers Folkmar Allena gefallen sei. Hatte ihn vielleicht tragischerweise der Schlag getroffen? So etwas sollte es geben, dass Menschen einfach tot umfielen. Er war ja nicht mehr der Jüngste und seit längerer Zeit kränklich gewesen.
Wie beliebt Ocko bei seinen Unterassen gewesen war, hatte der Abt des Klosters Ihlow bekundet, als er mit allen Ehren direkt zu Füßen des Altars im edlen Erbbegräbnis der Familie beigesetzt wurde.
„Gott gönne unserem vortrefflichen hochwohlgeborenen Ritter, Richter und Häuptling eine süße Ruhe und an jenem Tag eine fröhliche Auferstehung zum ewigen Leben“, hatte der Abt gesagt, denn Ocko war nicht nur ein großer Gönner und Angehöriger der Stifterfamilie des Klosters gewesen, sondern hatte als ererbtes Recht Teil an der kirchlichen Jurisdiktion. Das war nicht immer leicht für ihn gewesen, denn Kirchenstrafen waren häufig grausam, besonders dann, wenn es um Ehebruch ging.
Wie gern hätte Foelke sich heute in ihrer Kammer verkrochen, wie sie es häufig seit Ockos Tod tat. Dort fühlte sie seine Seele mehr als anderswo. Ich kann nicht ohne dich sein, ich kann’s nicht, aber ich muss, dachte sie traurig und nun rannen unaufhaltsam Tränen über ihre bleichen Wangen und als sie nach ihrem Schnupftuch suchte, entglitt der Bartkamm ihren feuchten Fingern.
Ich liebe dich, Ocko, ich liebe dich so sehr und es nimmt kein Ende, dachte sie und bückte sich nach dem Kamm. Du hast mich allein gelassen. Ich bin krank vor Sehnsucht nach dir. Ich kann nicht ohne dich sein. Oh, mein Liebster, ich brauche dich so sehr! Was soll ich ohne dich tun? Ich fürchte mich ohne dich, ich fürchte mich vor dem Leben. Wie soll ich es meistern ohne dich? Nichts und niemanden gibt es, der dich ersetzen könnte...
Mit Bedacht legte sie Dodenlaken und Bartkamm zurück in die Truhe, klappte den Runddeckel erneut zu, ließ das eiserne Schloss einrasten, lehnte sich deprimiert an das reich verzierte Möbelstück.
Oh, hilf mir mein Gott! Ich flehe dich an! Ich brauche ihn so sehr! Warum hast du ihn mir genommen? Ich will ihn wiederhaben! Gib mir meinen Ocko zurück! Welch schwere Sünde habe ich auf mich geladen, dass du mich so grausam strafst? Keine Freveltat hab ich begangen. Sag an, warum strafst du mich dann so! Warum hast du mir das angetan? Ich kann, ich will nicht ohne ihn sein. Ich brauche ihn so sehr… Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht, ehe sie sich straffte: Ich kann unmöglich verheult zur Prozession gehen. Traurigkeit hilft nicht weiter – sie macht krank, nichts als krank. Ich muss endlich zu mir selbst finden, mich mehr einbringen. Sie sagen zwar alle, ich würde mich zu sehr in die Regierung einmischen, dabei tue ich es zu wenig. Ich habe die Pflicht, Ockos Erbe zu erhalten und zu mehren! Mir gebührt die Macht. Widzelt darf bis zu Kenos Mündigkeit nur Nutznießer sein und bleiben... nicht mehr und nicht weniger. Unserem Sohn geziemt die Krone der Macht. Ich muss und werde sie für Keno bewahren! Ein schweres Erbe, niemand wird uns helfen, alle würden Keno am liebsten zerfleischen, um selber die Macht an sich zu reißen!
Nicht nur als Landesherrin war Foelke gehalten, an der kirchlichen Prozession teilzunehmen, sondern auch aus Christenpflicht. Ach, und dabei fühlte sie sich halb tot vor Trauer und Müdigkeit. Der Vollmond hatte ihr den Schlaf geraubt und nicht nur er . Es waren die schrecklichen Gedanken, die sie nicht losließen. Wie kam es nur, dass sie immer ein strahlend hell erleuchtetes Tor vor sich sah und darin eine Gestalt, die sich langsam entfernte? Kaplan Embeco hatte gesagt, der Tod sei das Tor zum Licht am Ende eines mühsamen Weges. Trotz seiner manchmal überspitzten Ansichten, war der Kaplan ein sehr gebildeter Mann, dessen umfangreiches Wissen Foelke oft bewunderte. Vielleicht beherrschten seine Worte deswegen fortwährend ihre Gedanken? - Langsam beruhigte Foelke sich wieder. Sie summte ein Liebeslied vor sich hin und mit jedem Ton schien die Melodie sie emporzuheben; sie schwebte davon... in den Himmel... Sie lächelte sogar in süßer Erinnerung und sang plötzlich aus voller Kehle:
Bis die Distel traget Rosen,
bis der Mühlstein traget Reben,
so lang werde ich dich lieben,
bist auch fern von mir.
Ich weine mir die Augen blind
in Leid und peinvoll Jammer,
bist mein ganzes Glück hab dich ja so lieb,
sterbe bald vor Kummer.
Verloren ist mein ganzes Glücke,
ist mein ganzes Glück,
kommt nie mehr zurück,
kommt niemals mehr zurück.
Dein Name klingt in mir,
der Wind erzählt von dir.
Ich bin so allein
und kann nicht bei dir sein.
Bist nicht mehr bei mir,
Nacht ist Gast bei dir.
Tränen zeugt der Schmerz
in dem gebrochenen Herzen...
Vor ihrer Kammertür stand Widzelt, den Türgriff in der Hand. Wie oft hatte er dieses Lied schon gehört. Es spiegelte ihr ganzes Herzweh wider. In atemloser Stille lauschte er auf den Gesang, der sich emporzuschrauben schien bis in den Himmel - zu ihm - zu Ocko. - Wie wunderbar, ihre Stimme zu hören, hell und klar! Jeden dieser sauber intonierten Laute liebte er. Der Klang entwickelte sich, dehnte sich aus, erblühte, ging nicht nur ins Ohr, sondern bis tief in seine Seele.
Plötzlich aber brach ihre Stimme und ging über in Schluchzen, woraufhin Widzelt auf leisen Sohlen seinen Posten verließ. Er hatte sie abholen wollen, denn um fünf Uhr in der Früh sollte sich der Mysterienzug in Bewegung setzen und es war höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen. Unter diesen Umständen aber beschloss er, erst einmal vorauszureiten nach Marienhafe.
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