Auch er hatte sich verändert. Manchmal kannte er sich selbst nicht wieder. Er war ruhiger geworden, wurde seltener laut, und wenn doch, dann explodierte er geradezu. Sein Tonfall war manchmal überraschend hart, unsinnig hart sogar. Er verängstigte die Leute. Sie sanken manchmal vor Schreck auf die Knie, um ihn friedlich zu stimmen. Dabei wollte er ihnen doch gar nichts Böses. Übersteigertes Selbstbewußtsein, meinte der Kaplan. Ja, er hatte wohl Recht. Widzelt spürte selber, dass er wahnsinnig überheblich geworden war. Folkmar Allena hatte ihn in aller Öffentlichkeit sogar schon als „arrogantes Morsloch“ beschimpft. Als man Widzelt das zutrug, hat er nur kalt aufgelacht. Nein, das tat ihm nicht weh. Sein Kommentar lautete schlicht: „Selber arrogantes Morsloch. - Folkmar ist nichts als scheelsüchtig.“
Es gab eine Prophezeiung, an die Widzelt fest und unverbrüchlich glaubte. Diese Voraussage lautete in etwa so: Jener, der das Schwert in einem Kreuzzug überlebt, wird das nächste Haupt der Macht. Er hatte an einem Kreuzzug teilgenommen. Ja, und er war daraus heimgekehrt, trotz aller Kämpfe, Krankheiten und Anschläge auf sein Leben. Er glaubte, dass Gott ihm Schutz gewährte, weswegen er starr darauf beharrte, auf dem richtigen Weg zu sein. „Ich schaffe alles“, pflegte er zu sagen und irgendwie gelang ihm das sogar, allerdings weniger mit Gewogenheit als mit Gewalt. Er hatte viele Menschen getötet – im Krieg, das war sozusagen Selbsterhaltung, aber er hatte auch etlichen aus der Bredoullie geholfen. Genauso wie bisher, würde sein Leben fortschreiten: Hilfe leisten oder... töten! Das hatte man ihn von Kindesbeinen an gelehrt. Ob als Richter, Häuptling oder Feldherr, ob er Verträge abschloss oder seinem Grafen Fehdehilfe und Heeresfolge leistete, täglich sah er, dass alles, was er tat, unter diesem einen Aspekt stand: Helfen... oder töten!
Was aber hatte er bisher alles erreicht? Was hatte er wirklich und ehrlich mit saurem Schweiß erworben? Hatte er Gutes erreicht? – Hatte er Anerkennung gewonnen? Ansehen? Sicher, denn man schaute zu ihm auf. Beim Heiligen Georg! Das tat man sowieso, weil er dem belangreichen Geschlecht der tom Brook entstammte. Es musste etwas anderes sein, etwas, das nicht mit Krieg und Bluttaten zu tun hatte, etwas, wofür man ihm Dank schuldete... Dankbarkeit? Wer sollte ihm dankbar sein und wofür? Vielleicht die Oda, weil er sie aus dem brennenden Kawen gerettet hatte? Aber warum sollte sie das? Gehörte er doch zu jenen Kreuzlern, welche die Stadt zuvor angezündet hatten.
Die Geistlichkeit äußerte zu seinen Taten, dass er “Großes“ vollbracht habe, weil er dafür gesorgt habe, dass Heiden zu Gott finden konnten, zu seinem Gott... Götter verehrten die Menschen davor auch, nur nicht seinen, den einen und einzigen Gott. Niemand hat je diesen Gott gesehen oder doch? Er wusste es nicht mehr. Er wusste auch nicht mehr die Gründe, warum er das eine oder andere getan hatte. Jeder Mensch muss sich überlegen, warum er bestimmte Dinge tut. Auch er. Aber er wusste es einfach nicht mehr. In seinem Kopf dominierte seit Ockos Tod nur noch sie... Foelke. Er wollte nur das Beste für sie. Sie aber wollte nichts von ihm wissen. Warum nicht? Er war doch ein sehr ansehnlicher Mann. Viele junge Frauen bekamen glänzende Augen und rote Apfelwangen, wenn er sie auch nur eines Blickes würdigte. Vielleicht war es nur zu früh für Foelke? Vielleicht würde sie nach einer angemessenen Trauerzeit doch noch zu ihm finden? Gewiß, sie war vernünftig – aber nicht immer. - Vielleicht bedrängte er sie zu sehr und viel zu früh nach dem Tod ihres geliebten Mannes. Er hatte es verdient, wenn sie ihn abwies. Ja, das wusste er nun mit Sicherheit, dass sie Ocko über alles geliebt hatte. Das sprach aus jedem Blick ihrer verweinten Augen. Er aber wollte von nun an ihr Beschützer sein und nicht nur sie, auch ihre Kinder und alle Untersassen wollte er beschirmen. Ein Häuptling muss ein Schutzherr sein. Oft war es ihm unmöglich, diesem Anspruch gerecht zu werden, und doch war es ihm in Fleisch und Blut übergegangen, denn dafür hatten seine Lehrmeister gesorgt, manchmal mit beinharten Strafen. Nein, zurückziehen würde er sich nicht. - Sicher würde es ihm gelingen, sich auch mit jenen Untersassen auszusöhnen, die ihn bisher als “Thronräuber“ zurückwiesen. Jedoch, er wusste einfach nicht mehr, wie er diese Leute gewinnen konnte. Es schien ihm, als könne nur die Ehe mit Foelke ihn retten. Er wollte mit ihr darüber reden – bei Gelegenheit. Günstig war das sicherlich dann, wenn sie seine Hand nahm. Manchmal, wenn sie ihn brauchte, tat sie das, um irgendwelche Dinge zu besprechen. Das war das Schönste überhaupt, wenn sie seine Hand hielt. Dann schien es ihm, als stünde die Welt für einen Augenblick still und er fühle ihr gemeinsames Leben in ihren Händen pulsieren.
Es war einerlei, was er tat, er sah immer nur Foelke, Foelke, Foelke... Ihm war alles andere egal, er wollte nur sie! Sie war nicht immer einer Meinung mit ihm, wenn es um politische Dinge ging, aber sie war so wunderschön und Schönheit war ihm wichtiger als politische Übereinstimmung. Er schaue sie zu ambitioniert an, warf sie ihm vor. Ja und? Er liebte sie halt.
Sie brauchte Bedenkzeit, das war offensichtlich. Er aber musste Geduld lernen, um sie zu erobern. Mehr als jede andere Frau, die er irgendwann gekannt hatte, begehrte er sie. Er bewunderte ihr Temperament, das zuweilen durchbrach. Oh ja, er war wild entschlossen, sie zu gewinnen und hatte sogar seinen Beichtiger belogen und behauptet, sie lasse ihn völlig kalt. Ob er das geglaubt hatte? Da kamen ihm doch arge Zweifel.
Zuvörderst musste er sich erst einmal ablenken, zur Jagd gehen oder irgend etwas arbeiten, vielleicht auch mit den Baumfällern in den Wald ziehen und Bäume fällen oder im Morgengrauen mit den Fischern hinausfahren aufs Meer oder sich den Piraten anschließen, um auf andere Gedanken zu kommen. – Die Piraten, das war wohl die beste Ablenkung, die es geben konnte und er konnte sich gleichzeitig mit ihren Anführer befassen, was ohnehin notwendig war. – Zwei Fliegen mit einer Klappe! - Und dann, wenn er fest im Sattel säße, dann würde er Foelke heiraten können und dann würde sie gesunden, denn nichts tröstet mehr als innige Liebe, jene Liebe, die er für sie empfand.
Unversehens kam es dazu, dass seine geheimen Wünsche fast schon zum Wahn anschwollen. Sein Wohlergehen, so wähnte er, hing von einem einzigen Menschen ab, von ihr. Tag und Nacht sah er sie vor sich, träumte von ihren weißen Schenkeln, dem biegsamen Rücken, dem weichen Leib und dann ihre Brüste... die samtige Haut und ihr herrlicher Duft! - Zuweilen horchte er an ihrer Tür, betrat auch wohl heimlich die Kemenate und lauschte auf ihre Atemzüge. Ja, auch ihr Weinen hörte er manchmal durch die schweren Samtvorhänge ihres Himmelbettes hindurch und dann malte er sich aus, wie es wäre, sie in seinen Armen zu halten und zu trösten und... in sie einzudringen... Ob sie das glücklich machen würde? Würde sie wohlig schnurren wie ein Kätzchen oder stöhnen vor Lust und Leidenschaft, gar schreien vor Entzücken? In seinem Innern entstand ein Bild von ihr, wie sie jauchzte vor Erregung. - Lauter Wahnvorstellungen, nichts als Geistesverwirrung. War es das? Möglich. - Davon aber war er überzeugt: An jenem Tag, an dem sie sich miteinander vereinten, würde er neu geboren werden!
Manchmal erschrak Widzelt vor sich selbst und seiner Erregtheit. Dann rannte er Hals über Kopf ins Badhaus und goss sich einen Eimer kalten Wassers übers Gemächt. Oh nein, so konnte, so durfte es nicht weitergehen! Diesen lüsternen Gedanken musste er Einhalt gebieten. Er durfte nicht dulden, dass seine Phantasie mit ihm durchging. Das konnte nur ein böses Ende nehmen, denn das wusste er ganz genau: ein falsches Wort zu Foelke, und seine lieblichsten Träume landeten auf einem stinkenden Misthaufen. Nur ein einziges falsches Wort konnte ausreichen, sein Leben zu ruinieren! Pflegte er damit nicht den Gesetzesbrechern die Hölle heiß zu machen? „Wisse“, drohte er zuweilen, „und behalte es gut in deinem Kopf: ich habe es in der Hand, dein Leben restlos zu zerstören. Ein falsches Wort und du kriegst kein Bein mehr an Deck!“ Nein, das war beileibe keine harmlose Einschüchterung, denn Widzelt gebot beinahe gottgleich über Leben und Tod und manch einer hatte es schon tief bereut, seine Warnung unbeachtet gelassen zu haben.
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