1 ...7 8 9 11 12 13 ...47 „Und wieso kommt die Flut wieder zurück?" fragte jemand keck.
„Das will ich dir erzählen."
Geheimnisvoll öffnete der Reisige seinen Mantelsack, schaute hinein, wühlte mit der Hand darin herum und zog schließlich einen lebenden Aal heraus.
Die Zuschauer lachen: „Ha, ha, er kann einen Aal nicht von einer Schlange unterscheiden!"
Unbeeindruckt fuhr der Erzähler fort: „Was ihr nicht sagt! Seht nur, das Wasser, das die Schlange am hinteren Ende wieder ausscheidet, das heißen wir bei uns die Flut."
Die Zuhörer brüllten vor Lachen.
Ocka zwängte sich vorwitzig in die erste Reihe der Neugierigen.
„Beim Jüngsten Gericht werden sie zusammen die Götter bekämpfen. Schon jetzt ergänzen sie einander, wenn die Sturmflut eure Deiche wegspült."
„Wer denn?“ „Wer denn?“ schallte es aus der Menge.
„Leute, die Flut und die Midgardschlange natürlich.“
„Ja, ja, wer's glaubt!" - „Lügner! Nur einen Gott gibt es!"
Der Barde schien unbeeindruckt: „Jeder von euch hat es doch schon gesehen und ihr glaubt es nicht? Nein? Du? Glaubst du es?" Sein schmutziger Finger stach auf die Brust eines Halbwüchsigen. Der erschrak und stotterte verwirrt eine Antwort aus Ja und Nein und dass es doch nur eine Mär wäre.
Einige Zuhörer trollten sich lachend und der Geschichtenerzähler schickte seinen Buben hinterher, um ein Scherflein einzusammeln.
„Nun, ich sehe, dass ihr mehr hören wollt", fuhr er fort. „Bevor Kaiser Karl, den man den Großen nennt, uns zum wahren Glauben bekehrte, hatten die Germanen viele Götter und sie glaubten an viele Bösewichte, die in der Unterwelt hausten. – Nun, ihr Leute, ihr glaubt nicht daran? Warum nicht? Aber an den Satan glaubt ihr?"
Von überall kam bewegte Zustimmung.
„Nun, ich denke, dass Satan auch solche Kinder haben könnte."
„Satan hat Kinder?" - „Das wüßt ich aber! Ne, ne, der hat keine..." – „Du bist ein vermaledeiter Schelm!“, schallte es erregt aus dem Menge.
„Jenun, weiß man's? Also, dass ich euch erzähle: Habt ihr gut aufgepasst?
Die Midgardschlange hat jedenfalls noch Geschwister. Das hab ich gesagt und so ist es. - So will ich euch jetzt von Fenrir berichten. Fenrir hat die Gestalt eines Wolfes und ist eine Ausgeburt der Hölle, das Böse schlechthin."
Der Geschichtenerzähler verzog unterdessen sein Gesicht zu grässlichen Grimassen und untermalte seine Worte mit schaurigem Geheul, während er in seinem durchgeweichten Ledersack wühlte. Der stank als ob er in der Kloake gelegen hätte. Dann zog und zerrte er angestrengt im Innern des Sackes, als ob da Bleigewichte drin wären. Langsam kam eine puschelige Wolfsrute hervor, Hinterläufe..., ein toter Wolf. Der hat nur noch einen Vorderlauf und er stank auch teuflisch, weil er schon am Verwesen war. Aber seine aufgerissenen Augen und der aufgesperrte Fang mit den langen Reißzähnen waren so beeindruckend, dass die Zuhörer entsetzt zurückwichen.
„Wicht, komm her!" forderte der Barde Ocka auf. „Leg deine Hand in sein Maul!"
Ocka tat gehorsam einen kleinen Schritt vorwärts, streckte den Arm aus… zögerte…
„Nein", rief Widzelt empört, stürzte vor und riss Ocka zurück. „Das mag tun, wer will, sie tut’s nicht!"
„Hat jemand Mut? Will's jemand wagen?"
War aber keiner und der Erzähler warf den toten Wolf auf den Brunnenrand.
„Kerl! Was soll das? Willst du unseren Brunnen vergiften? Sofort nimmst du den Wolf da ‘runter oder ich pack dich bei den Ohren und werfe dich in den Kerker!“, zischte Widzelt.
Er wußte sich vor Zorn kaum zu lassen, am liebsten hätte er ihn auf der Stelle verprügelt. Oh, wie böse er gucken konnte! Aber das erschütterte den Kerl nicht und er bölkte empört zurück: „Das würde ich nicht tun, dann würdest du das Beste verpassen, ha, ha, ha!“
„Kerl! Es genügt dies alles, dass du um deinen Kopf fürchten musst!“, entgegnete Widzelt. In seiner Stimme lag unverhohlene Bedrohung.
„Wer bist du überhaupt, dass du es wagst, mir dumm zu kommen!“
„Du Wurm! Er ist unser aller Herr!“ kreischte von irgendwoher eine Weiberstimme.
Der Geschichtenerzähler zuckte erschreckt zusammen, ehe er für einen Wimpernschlag erstarrte. Dann riss er den toten Wolf an sich, warf sich mitsamt dem Kadaver zu Boden und winselte um Gnade.
Foelke schien das reichlich übertrieben, aber Widzelt warf stolz seinen Kopf in den Nacken, grinste spöttisch und schwieg. Sein Blick überflog die Menge. Oh ja, jeder wusste es: Auf Brunnenvergiftung steht der Tod!
Endlich zupfte ein kleines Mädchen den Geschichtenerzähler unschuldig am Ärmel: „Onkel, warum willst du nicht weitererzählen?"
„Ja, erzähl weiter!" bettelten einige Kinder und als Widzelt aufmunternd nickte und dem Erzähler bedeutete, aufzustehen, erhob er sich kleinlaut und fuhr mit brüchiger Stimme fort: „Als die Götter Fenrir, diese Ausgeburt der Hölle, sahen, beschlossenen sie, Fenrir anzuketten und sie schmiedeten schwere Eisenketten. Aber die gewaltige Bestie riss sich immer wieder los und das Böse ergoss sich wie die Pest über die Erde. - In ihrem Unglück verbünden sich nun die Götter mit den Zwergen, um dem ’Bösen’ Herr zu werden. Die Zwerge aber, so winzig sie sind, sie sind schlau und listig. Sie flechten ein magisches Band, welches dünn wie Seide ist aber so stark wie die Schöpfung selbst. Damit sollen die Götter Fenrir an die Leine nehmen, sagen die Zwerge. Die Götter wollen es zuerst nicht glauben, aber dann tun sie es doch und locken den riesigen Wolf in eine Höhle.“
„So wie die Hünengräber im Hümling?“ fragte ein Bursche keck.
„Im Hümling? Ja, da gibt es viele Höhlen. Man nennt sie Gräber, aber da wohnt kein Wolf. Dort lassen die Schäfer ihre Schafe nächtigen. Da sind sie geschützt vor dem Wolf.“ Der Märchenerzähler hatte sich wieder gefangen. Er bückte sich nach dem Kadaver, hob ihn auf und strich sehr vorsichtig über das Fell, damit dem Pelz die Haare nicht ausfielen. Zwischendurch warf er immer wieder ein wachsames Auge auf Widzelt. Als Fremder in diesem Land musste er umso mehr Vorsicht walten lassen, denn allzu schnell konnte man mit dem Pranger Bekanntschaft schließen.
„Fenrir ist listig, er ahnt, dass die Götter Arges mit ihm vorhaben und er verlangt darum ein Pfand von den Göttern, zu seiner Sicherheit. Die Götter überlegen, was sie tun sollen. Nun legt der Gott Tyr ihm seine Hand in den mächtigen Rachen, während die anderen Götter Fenrir mit dem magischen Band binden."
Der Geschichtenerzähler zog unterdessen ein gewaltiges Hackmesser aus seinem Leibriemen und die Leute wichen vorsichtshalber einen Schritt zurück.
„Als Fenrir bemerkt, dass sich das Band zusammenzieht, wenn er sich bewegt“, fuhr der Erzähler fort, „da heult Fenrir auf und beißt dem Gott Tyr die Hand ab." Im selben Augenblick hackte der Geschichtenerzähler dem toten Wolf den zweiten Vorderlauf ab und mit Schwung flog die Pfote in die zurückweichende Menge.
„Da habt ihr! Das bringt Glück!" schrie er.
Die eklige Pfote klatschte geräuschvoll auf die Kapuze eines Mönchs, der ärgerlich das Weite suchte. Das erregte Heiterkeit und der Schelm tanzte glucksend und kichernd mit seinem Wolf im Arm und dem Messer in der Hand in die Runde. Das ergötzte die Leute und sie lachten schallend.
„Und?" fragte Widzelt nüchtern, „hat Fenrir sich befreit?"
„Nein, es ist, wie die Zwerge vorausgesagt haben: aus dem magischen Band kann er sich nicht befreien! - Wütend riss das Raubtier den Fang auf, brüllte und fletschte das grauenhafte Gebiss, aber er konnte sich nicht losreißen und die Götter verkeilten blitzschnell ein Schwert in seinem Rachen, das ihn bis zum heutigen Tage hindert, seinen Fang zu schließen und die Welt zu verschlingen. Fenrir ist immer noch wütend und heult und brüllt schlimmer als die Gewalten des Sturmes, aber es hilft ihm nichts. Manchmal kann man ihn heulen hören. Das Geheul aber weckt die Midgardschlange und sie peitscht das Meer und schlägt die aufgewühlten Wasser wild gegen eure Deiche. Hört nur genau hin, ihr Leute, dann hört ihr das Brüllen von Fenrir. Aber so sehr er auch wütet und heult. Sein Schicksal ist es, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts, dem Ragnarök, in Fesseln zu bleiben. - Und genau wie Fenrir in seiner Höhle, so wartet in den Tiefen des Meeres die Midgardschlange auf Ragnarök, das Jüngste Gericht, dann wird sie vom Meeresgrund emporsteigen, und wenn sie sich in den Schwanz beißt, dann wird die Erde auseinanderbrechen. So ist es überliefert, liebe Leute, bis zum heutigen Tag, und wer's nicht glaubt, der spitze die Ohren, wenn Sturmflut eure Küste heimsucht“, endete der Geschichtenerzähler und schickte seinen Sohn, milde Gaben einzusammeln.
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