„Seid ihr im Gebet versunken gewesen? Verzeiht, es ist wohl die Zeit?"
Der Arzt entschuldigte sich mit vielen Verneigungen: „Hier ruft kein Muezzin vom Minarett", murmelte er schwermütig und Foelke fühlte, dass er wohl krank vor Heimweh war. „Fünfmal am Tag ruft der Muezzin: bei Sonnenaufgang, zu Mittag, nachmittags, bei Sonnenuntergang und am späten Abend. Hier läuten die Glocken.... Ja, ich habe gebetet zu Allah."
Ob sie eintreten dürften?
Freundlich lächelnd verneigte er sich abermals und gab die Tür frei.
Seine - sonst samtig braune - Hautfarbe hatte einen grauen Schimmer und er wirkte übernächtigt mit seinen dunkel umrandeten Augenhöhlen. Die geröteten Augäpfel schwammen in Tränenflüssigkeit, die schwarzen Augen glänzten fiebrig.
„Ihr habt Euch doch nicht mit der Influenza angesteckt, Ibn?"
Ein flüchtiges Lächeln geisterte über sein Gesicht, aber er antwortete nicht.
Ibn bot Foelke sogleich als Neuerwerb erlesenes Papier an. Ocko hatte vor Zeiten ein wenig Papier aus Italien mitgebracht, das war längst aufgebraucht. In Italien, erzählte Ibn, werde Papier schon seit über hundert Jahren hergestellt.
Begeistert ließ Foelke ihre Finger über die Bogen gleiten. „Wie schön sich das anfühlt. Und woraus macht man das?"
„Papier wird gemacht aus fein gemahlenen Lumpen aus Flachs und auch wohl Stroh und Rinde. Die Lumpen werden zuerst auf einem mit einem Sensenblatt bewehrten Reißstuhl zerfetzt und dann muss die Masse faulen, um sie mürbe zu machen.“
„Faulen? Und das wird zu Papier?“
„Nun, es wird zusammenhalten mit Knochenleim."
„Knochenleim!“ - Sie ließ das Sonnenlicht durchscheinen und fuhr mit dem Finger die längeren Fasern nach: „Ja, ich sehe es... Es ist so durchsichtig und fein..."
„Wohl schon über tausend Jahre kennt man Papier im fernen chinesischen Reich. Meine Brüder haben das Geheimnis der Papierherstellung ergründet. Dieses Papier hier ist aus meiner Heimat", erklärte Ibn mit bescheidenem Stolz.
„Aus Sizilien?"
„Hm."
Foelke erwarb schließlich einige Blätter dieser unsäglich teuren Kostbarkeit.
„Und wir? Können wir das nicht auch machen? Es ist wohl sehr schwierig?" fragte sie, während sie das Geld abzählte.
„Vermutlich könnte man das. Aber das Geheimnis der Herstellung wird streng gehütet“, erklärte der Apotheker. „Hier im Deutschen Kaiserreich gibt es seit wenigen Jahren eine Papiermühle vor den Toren der Kaiserstadt Nürnberg. Und wie ich erst kürzlich erfahren habe, haben die Ravensberger Grafen eine eigene Papiermühle. Sie nennen sie Hadermühl."
„Ach so, wegen der Lumpen.“
„Ja. Wenn die Masse genügend gefault ist, wird sie mit einigen anderen Zutaten in der Papiermühle gestampft. Diese anderen Zutaten sind das große Geheimnis. Für das Stampfen braucht man Wasserkraft. Was dann daraus wird, das nennt man das Halbzeug. Es muss dann noch einmal gestampft werden und wird danach als "Ganzzeug" in Fässer gefüllt, mit Wasser und Leim aufgegossen und verrührt.“
„Und wenn es getrocknet ist, wie wird es in Scheiben geschnitten?“ fragte Ocka wissbegierig.
„Nicht ganz. Dieser stinkende Brei wird mit einem Sieb abgeschöpft. Man lässt so viel Wasser ablaufen wie möglich und dann wird das Sieb über einem Filz umgestülpt. Im nächsten Arbeitsgang stapelt der Leger die Filzstücke mit den darauf abgelegten Papierbögen übereinander.“
„Und dann lässt man sie aber nun trocknen?“ Ibn lächelte fein über Ockas Ungeduld und fuhr fort: „Ja, aber erst wird das Wasser mit der Gautschpresse aus dem Stapel herausgepresst.“
„Was ist das, eine Gautschpresse? Hört sich komisch an.“ Foelke strich sich verunsichert eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Der Filzstapel wird zwischen zwei Platten gelegt. Die obere Platte wird so lange nach unten geschraubt, bis kein Wasser mehr herausfließt. Danach werden die Papierbögen von den Filzen gelöst und nun endlich getrocknet. Als Letztes werden die Ränder beschnitten.“
„Ach, das hört sich aber doch ziemlich einfach an. Können wir das nicht auch? Die Lumpen kann man doch einsammeln lassen.“
Ocka wurde es langweilig und sie öffnete neugierig hier ein Döschen, da ein Fläschchen, schaute hinein, schnupperte daran, verschloss es wieder, stellte es brav zurück. Plötzlich nieste sie heftig, weil sie ihre Nase zu weit ein Fässchen mit Nelkenpulver gesteckt hatte und Foelke tadelte: „Ocka, das tut man nicht.“
Bereitwillig erklärte Ibn, dass man sehr viel reines Wasser benötige und es noch andere Schwierigkeiten gäbe, abgesehen von den Geheimrezepten, um Papier herzustellen.
„Ibn, so meinst du nicht, dass wir hier auch eine Papiermühle haben sollten? So schwer kann es doch nicht sein. Ich meine, das Rezept. Da kannst du doch bestimmt helfen.“
„Burgfrau, eine Papiermühle ist nicht ratsam. Damit holt man sich nichts als Ärger ins Land.“
„Was befürchtest du, Ibn? Das bringt doch auch Arbeit und Geld ins Land.“
„Arbeit! Aber was für Arbeit? Der Umgang mit den Lumpen macht krank. Die Leute bekommen die Krätze, Gliederschmerzen und Atemnot. Dazu der grauenhafte Gestank der faulenden Hadern und der Leimküche. Es wird unglaublich viel gutes Wasser gebraucht.“
„Sag mir, Ibn, welche Arbeit verursacht keine Krankheiten? Man könnte es an der Ems machen“, beharrte Foelke.
„Ja, das könnte man, aber danach ist der Fluss nur noch eine stinkende Kloake.“
„Wie meinst du das?“
„Man kann das Wasser nicht mehr trinken und auch sonst kann man es kaum noch nutzen. Die Abwässer einer Papiermühle würden den Fluss entsetzlich verschmutzen. Und auch daran müsst ihr denken, Burgfrau, die Menschen, die dort wohnen und fischen, ihre Wäsche waschen, Trinkwasser schöpfen. Sie alle würdet ihr euch zu Feinden machen.“
„Und wenn man es an der Flussmündung macht? Ein bisschen mehr oder weniger Gestank, was macht das? Den trägt der Wind fort. Was stinkt denn nicht? Gerben stinkt auch und das Färben und selbst, wenn der Flachs fault…“
„Herrin, lasst es! Es wird nicht gelingen. An der Flussmündung drückt zu viel Salzwasser herein und wenn Ebbe ist, geht gar nichts mehr.“
So ganz konnte Foelke sich der Argumentation nicht anschließen. Sie wollte bei Gelegenheit mit Widzelt darüber reden.
„Ach Ibn, warum sollen wir nicht können, was die Ravensberger können? Dann würde das Papier für alle erschwinglicher und wir könnten die Staatskasse aufbessern", meinte Foelke abschließend und dachte an ihre Schwester, in deren Kloster das Pergament für die schönen Schriften noch eigenhändig angefertigt wurde.
Begehrlich beschaute Foelke sich den herrlichen, Safran gefärbten Seidenstoff und den golddurchwirkten Brokat und fragte beiläufig, ob Ibn nicht doch wieder zurück auf das Schloss kommen möge. Aber der Arzt verneinte kopfschüttelnd, so dass seine schütteren Haarsträhnen um die Ohren schwangen.
Sein Haar ist ganz grau geworden in Ockos Diensten. Als er mit Ocko aus Neapel kam, war es noch nachtschwarz. - Ocko hat ihn einst vor dem Tode bewahrt. Seit diesem Tage glaubte er, ihn beschirmen zu müssen. - Er hat sich selbst zum Sklaven gemacht... Ich glaube, er fühlt sich jetzt erst richtig frei, seitdem Ocko nicht mehr ist. - „Ibn, wenn du auf dem Schloss wohnst, bist du auch frei."
An seinem feinen Lächeln sah Foelke, dass er wusste, worauf sie anspielte. „Ihr wollt keinen Arzt und Apotheker im Dorf?", fragte er offen.
„Doch, ich meine nur... Ja, du hast Recht. Vielleicht ist es besser für dich, hier zu leben, für dich und auch für meine Untersassen... Auf dem Schloss hast du aber mehr Ruhe... in deinem Alter..."
Ibn vermied eine klare Stellungnahme. „Junker Widzelt, er ist in den Krieg gezogen?" fragte er leise.
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