»Ja, dieses Risiko besteht«, räumte sie ein. »Aber Sie alle hier haben in den vergangenen sechs Wochen bewiesen, dass Sie gute Observateure sind. Deshalb bin ich sicher, dass Hosseini keinen Verdacht schöpfen wird.«
Wilke öffnete den Mund für eine Replik, aber sein Sitznachbar Jens Böhmer legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Was machen wir denn mit den Dealern? Wenn wir die alle drei festnehmen, wird Hosseini sicher misstrauisch.«
Elisabeth sah ihn erleichtert an. Endlich ein konstruktiver Beitrag. Eines musste man ihrem Stellvertreter lassen: Er verhielt sich stets loyal, zumindest in den Teambesprechungen. Und soweit sie das beurteilen konnte, hatte er bisher auch nichts unternommen, um das Misstrauen zu schüren, das die Fahnder der neuen Chefin entgegen brachten.
»Nein, alle drei können wir nicht festnehmen«, stimmte sie zu. »Aber den in Köln-Mülheim sollten wir uns morgen schnappen, der verkauft am meisten Heroin. Am besten erwischen wir ihn auf frischer Tat, damit es nach einem Zufallsfund aussieht. Herr Reimer, Herr Schmidt, übernehmen Sie das?«
Die Angesprochenen nickten. Stefan Reimer war mit 26 Jahren der jüngste im Team. Ein bulliger, ruhiger Typ, der einen distanzierten Eindruck machte, aber seine Arbeit stets ohne Murren erledigte. Bert Schmidt, ein Enddreißiger mit hoher Stirn und schwarzem Johann-Lafer-Schnurrbart, sprach ebenfalls nur das Nötigste – zumindest mit ihr. Aktiver als sein Mundwerk waren allerdings seine Augen: Elisabeth hatte ihn wiederholt ertappt, wie er verstohlen auf ihre Brüste glotzte. Sie hoffte inständig, dass er bei seinen Observationen diskreter vorging. Und dass er nie den Mut aufbringen würde, sie anzubaggern.
»Machen wir direkt morgen früh«, sagte Schmidt mit breitem rheinischen Akzent.
Elisabeth wartete kurz, ob er seinen Ausführungen noch etwas hinzufügen würde, was aber nicht der Fall war. Fünf Wörter am Stück. Immerhin, dachte Elisabeth. Nicht, dass er sich noch als Plappermaul entpuppt.
»Okay«, antwortete sie. »Und bei den anderen beiden warten wir ab. Wir beobachten weiter, aber nicht mehr rund um die Uhr, sondern stichprobenartig.« Sie sah, wie einige Fahnder erleichtert aufatmeten. Das bedeutete weniger Nachtschichten.
Einwände schien es nicht zu geben. Wilke sah jetzt teilnahmslos zum Fenster raus. Elisabeth war es nur recht. Sie begann, Hosseinis Observation zu organisieren. Um kein Öl ins Feuer zu gießen, teilte sie Wilke nicht am Wochenende, sondern erst am Vormittag ein – ein Privileg, dass er als Stammesältester allerdings für selbstverständlich zu halten schien.
Nach der Besprechung fuhr Elisabeth nachhause. Sie hatte in den zurückliegenden Wochen genug Überstunden gemacht. Und in ihrer Wohnung in Benrath, einem vornehmen Stadtteil im Süden der Rheinmetropole, gab es jede Menge zu erledigen. Noch immer standen überall Umzugskartons herum. In den vergangenen Wochen hatte sie gerade noch genug Kraft gehabt, ein Brot zu schmieren und die Glotze anzuschalten, wenn sie spätabends heim kam.
Doch heute fühlte Elisabeth sich besser; der lang ersehnte Erfolg bei den Ermittlungen hatte Energiereserven freigesetzt. Sie war fest entschlossen, endlich die Kartons auszupacken und die Wohnung auf Vordermann zu bringen. Und morgen vor der Arbeit würde sie sich im Fitnessstudio anmelden, einen Termin hatte sie bereits vereinbart. Es wurde höchste Zeit, wieder ein Privatleben zu führen.
Während sich Elisabeth in ihrem Dienstwagen durch den Berufsverkehr schlängelte, dachte sie an die Teambesprechung zurück. Immerhin war die Situation nicht eskaliert, und am Ende hatten die Fahnder ihren Vorschlag akzeptiert. Ohne Begeisterungsstürme, aber die wären wohl nur zu erwarten gewesen, wenn sie drei Wochen Sonderurlaub für alle verkündet hätte. Balzer hatte ihr aufmunternd zugenickt, bevor er wortlos verschwunden war.
Nichtsdestotrotz war Elisabeth klar, dass sie möglichst schnell für einen besseren Draht zu ihren Leuten sorgen musste. Aber wie? Die Männer zum Altbier einladen und über Fußball quatschen? Das passte nicht zu ihr; und außerdem hatte sie von Fußball keine Ahnung.
Jedes Mal, wenn sie darüber nachdachte, kam sie zum selben Ergebnis: Sie brauchte einen Erfolg. Die Fahnder würden sie nur respektieren, wenn ihre Strategie aufging und zu den Hintermännern führte. Elisabeth war zwar nicht so naiv zu glauben, dass sie ihr dann plötzlich Sympathie entgegenbringen würden. Aber Respekt wäre fürs Erste völlig ausreichend.
Als sie am Benrather Schlosspark vorbeifuhr und ihren Blick über die gepflegte Anlage schweifen ließ, klingelte ihr Handy. Scheiße, dachte Elisabeth, als sie aufs Display blickte. Daniel Wessing, ihr Ex-Mann.
Sie steckte das Handy seufzend in die Freisprechanlage und nahm das Gespräch an.
»Hajek.« Sonst meldete sie sich in der Regel mit einem schlichten ‚Ja‘, aber es schadete nichts, Daniel daran zu erinnern, dass sie wieder ihren Mädchennamen trug.
»Hallo, meine Süße«, antwortete er ungerührt. »Stör ich?«
»Bin gerade unterwegs«, sagte Elisabeth kurz angebunden. »Was gibt’s denn?«
»Ich habe am Montag einen Gerichtstermin in Düsseldorf«, sagte er. »Ich verteidige einen Banker von der WestLB, der wegen Untreue angeklagt ist. Hat fast 100 Millionen mit griechischen Anleihen in den Sand gesetzt. Hast Du bestimmt in der Zeitung gelesen.«
Typisch Daniel, dachte Elisabeth. Keine Gelegenheit auslassen, um zu betonen, wie wichtig er ist. Ihr Ex arbeitete als Strafverteidiger und hatte schon etliche Top-Manager vor Gericht vertreten. Seit Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2007 verteidigte er in erster Linie Vorstände von Banken, die ihre Institute mit hochspekulativen Investments an den Rand einer Pleite gesteuert hatten. Elisabeth erinnerte sich noch bestens an Daniels ausschweifende Monologe am Frühstückstisch: Sicher, die Banker hätten unternehmerische Fehlentscheidungen getroffen. Aber das sei doch keineswegs strafbar. Sonst müsse ja bald die Hälfte aller Top-Manager in den Knast. Elisabeth sah das ein wenig anders, aber das interessierte Daniel nicht wirklich.
»Naja, und ich fliege schon Sonntagabend nach Düsseldorf«, fuhr er fort, als Elisabeth nicht auf die bahnbrechende Neuigkeit reagierte. »Und da habe ich mich gefragt, ob Du Lust hast, mit mir essen zu gehen.«
Elisabeth war inzwischen in die Seitenstraße abgebogen, in der ihre Wohnung lag, konnte aber keinen freien Parkplatz entdecken. Mist.
»Diesen Sonntag?«, sagte sie und suchte fieberhaft nach einer Ausrede. Da ihr nichts Besseres einfiel, entschied sie sich für einen Klassiker. »Das ist leider ganz schlecht. Da bin ich mit einer alten Schulfreundin verabredet.«
Elisabeth verspürte nicht die geringste Lust, Daniel zu treffen. Zum letzten Mal war sie ihm vor fünf oder sechs Wochen begegnet, als sie mit ihrer Freundin Julia ein Wellness-Wochenende in München verbracht hatte. Sonntags vor dem Rückflug hatte sie noch kurz bei Daniel vorbeigeschaut, um einige persönliche Sachen abzuholen. Er hatte sie in ungewöhnlich kleinlauter Manier gebeten, noch ein bisschen zu bleiben, »zum Reden«. Als sie ablehnte, hatte Daniel ernsthaft enttäuscht ausgesehen, was Julia, die glücklicherweise mitgekommen war, wenig später so kommentierte: »Der ist eindeutig wieder scharf auf Dich. Typisch Mann: Die wollen immer das, was sie nicht kriegen können.«
Elisabeth erklärte sich Daniels erwachtes Interesse eher damit, dass sie seit der Trennung wieder mehr auf ihr Äußeres achtete. Sie wusste schließlich, wie sehr ihr Ex-Mann auf Äußerlichkeiten fixiert war. Elisabeth hatte seit der Trennung immerhin sechs Kilo abgenommen – und zwar an den richtigen Stellen: Ihr Gesicht war schmaler, die Oberschenkel schlanker und der Hintern kleiner geworden. Nicht, dass sie vorher völlig außer Form gewesen wäre. Aber das eine oder andere Fettpölsterchen hatte sich über die Jahre gebildet. Außerdem sah sie dank ihrer schwarz gefärbten Haare und des neuen Pagenschnitts, der ihr attraktives Gesicht mit den tiefbraunen Augen betonte, stark verändert aus. Ein riesiger Fortschritt gegenüber ihrer vorherigen 0815-Langhaarfrisur, fand Elisabeth. Sie genoss es, dass Männer ihr jetzt wieder hinterherschauten. Für ihre 43 Jahre musste sie sich nicht verstecken. Allerdings bestand nach den letzten sportlosen Wochen die Gefahr, dass die Pfunde klammheimlich zurückkehrten.
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