Die hohen moralischen Ansprüche seiner Mutter. Wie wahr, dachte Manuel. Und doch so falsch. Seine Gedanken kehrten zurück zum letzten Gespräch drei Tage zuvor, das sein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte. Sie hatte ihn angelogen. Jahrelang. Ein Leben lang. Und jetzt schien nichts mehr so, wie es einmal gewesen war.
Manuels Handy hatte geklingelt, als er gerade die Tür zum Vorlesungssaal öffnete. Er traf sich in den Semesterferien hier wöchentlich mit zwei Kommilitonen, um Strafrecht zu pauken. Da er spät dran war, wollte er zunächst nicht drangehen. Warum er es dennoch tat, wusste er bis heute nicht. Vielleicht eine Vorahnung?
»Ja?«, sagte er mit leicht ungeduldigem Tonfall.
»Spreche ich mit Manuel Willmann?«
»Ja, das bin ich.«
»Ich bin Schwester Lisa von der Uni-Klinik Essen. Ihre Mutter hatte einen schweren Autounfall und wird gerade operiert. Unseren Informationen zufolge sind Sie der nächste Angehörige. Es wäre gut, wenn Sie herkommen könnten. So schnell wie möglich.«
Manuel lief es eiskalt über den Rücken. Er schluckte und brauchte einige Sekunden, bis er sich gesammelt hatte und mechanisch antwortete: »Ich mache mich sofort auf den Weg.«
Erst als er über den Mainzer Universitäts-Campus Richtung Parkplatz eilte, wurde ihm bewusst, dass er nicht gefragt hatte, um welche Verletzungen es ging und ob seine Mutter in Lebensgefahr schwebte. Aber »schwerer Autounfall« und »nächster Angehöriger« - das hörte sich nicht gut an. Im Gegenteil.
Nachdem er zweieinhalb Stunden später die 250 Kilometer zwischen Mainz und Essen zurückgelegt hatte, sah Manuel seine Befürchtungen bestätigt. Die Empfangsdame der Klinik schaute ihn ernst an und schickte ihn zur Intensivstation im zweiten Stock, wo ihm eine zierliche, gehetzt wirkende Ärztin in grünem Kittel öffnete. Sie machte sich nicht die Mühe, den Mundschutz abzunehmen oder sich vorzustellen.
»Herr Willmann, der Zustand Ihrer Mutter ist äußerst kritisch«, sagte sie. »Normalerweise bräuchte sie jetzt absolute Ruhe. Aber sie hat darauf bestanden, mit Ihnen zu sprechen.« Blick und Tonfall der Ärztin verrieten eindeutig, dass sie das aufs Schärfste missbilligte. »Bitte versuchen Sie unbedingt, Themen zu vermeiden, die Ihre Mutter aufregen könnten«, mahnte sie, während sie bereits den Flur entlang eilte.
Manuel wusste in diesem Moment noch nicht, dass das unmöglich sein würde.
Er folgte der Ärztin schweigend, bis sie abrupt vor einer Tür auf der linken Seite des Ganges stehen blieb und ihm einen letzten strengen Blick zuwarf. »Sie haben zehn Minuten«, fauchte sie.
Sein Herz pochte heftig, als Manuel eintrat. In dem matt beleuchteten Raum roch es intensiv nach Desinfektionsmitteln; medizinische Geräte surrten und piepsten. Seine Mutter lag reglos in dem Krankenbett, das einen Großteil des Zimmers einnahm. Auf den ersten Blick war kein Lebenszeichen zu erkennen, doch der Bildschirm links neben ihr verriet Manuel, dass das Herz schlug. So jedenfalls interpretierte er die Linie, die regelmäßig nach oben ausschlug.
Manuel näherte sich vorsichtig und betrachtete das Gesicht seiner Mutter. Kein schöner Anblick: Die Ärzte hatten ihren Schädel bandagiert, die Wangen waren blau verfärbt und die Augen blutunterlaufen. Manuel lief es erneut eiskalt über den Rücken. Mein Gott, dachte er.
Später sollte er erfahren, dass sich seine Mutter mit ihrem VW Passat auf der A 52 zwischen Düsseldorf und Essen mehrfach überschlagen hatte – bei dem verzweifelten Versuch, eine Karambolage mit einem Mercedes zu vermeiden, dessen 79-jähriger Fahrer plötzlich auf die linke Spur gewechselt war. Ohne erkennbaren Grund und ohne in den Rückspiegel zu schauen. Ein Rentner, der auf der Straße schon lange nichts mehr zu suchen hatte.
Seine Mutter, unterwegs zu einem Gerichtstermin in Essen, hatte eine Vollbremsung hingelegt, das Lenkrad herumgerissen und dann die Kontrolle über den Wagen verloren. Eine Mitschuld traf sie nicht, da sie nach Erkenntnissen der Polizei höchstens 120 Stundenkilometer gefahren war. Schneller fuhr sie sowieso nie, wie Manuel wusste. Er hatte sich schließlich oft genug darüber lustig gemacht. Es dauerte fast zwei Stunden, bis die Feuerwehrmänner sie aus dem Wrack des Wagens schweißen konnten; neben einer Schädelprellung und einem halben Dutzend Knochenbrüchen trug seine Mutter schwere innere Verletzungen davon.
Manuel holte tief Luft und griff vorsichtig nach ihrer Hand. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Unwillkürlich schossen ihm Bilder durch den Kopf: Seine Mutter bei seiner Abiturfeier, fröhlich lachend und unendlich stolz. Seine Mutter, wie sie seine Studentenbude renovierte, mit weißen Farbspritzern im Gesicht. Seine Mutter, wie sie herzhaft über einen seiner Sprüche lachte. Selbst, wenn er höchstens mittelprächtig war.
»Hallo, Mama«, sagte er leise.
Sie öffnete langsam die Augen und versuchte, den Kopf in seine Richtung zu drehen. Als sie aufstöhnte, setzte Manuel sich vorsichtig auf die Bettkante und beugte sich vor, damit sie ihn direkt anschauen konnte. Er glaubte, in ihren Augen Angst zu erkennen.
Seine Mutter räusperte sich. »Manuel.... Ich muss Dir …. etwas sagen«, flüsterte sie mit zittriger Stimme, um jedes Wort heftig ringend. »Es tut mir ….«
Sie konnte nicht weitersprechen, weil sie von einem heftigen Hustenanfall durchgeschüttelt wurde. Manuel fürchtete, sie würde gleich ersticken. »Soll ich die Ärztin rufen?«, fragte er hastig.
»Nein, nein«, presste seine Mutter hervor. Mit großer Anstrengung gelang es ihr, wieder ruhiger zu atmen. Nach einer gefühlten Ewigkeit versuchte sie, fortzufahren.
»Es geht um … um … um Deinen Vater.« Erneut musste sie eine Pause einlegen. Manuel bekam eine Gänsehaut. Er starrte seine Mutter wortlos an. Plötzlich konnte er es kaum erwarten, dass sie weitersprach. Die Sekunden, in denen sie neue Kraft sammelte, schienen sich endlos in die Länge zu ziehen.
Schließlich röchelte seine Mutter mit schmerzverzerrtem Gesicht: »Es war … kein... Samenspender.«
Ein neuer Hustenkrampf folgte, diesmal heftiger als der erste. Manuel saß jetzt reglos da, wie betäubt. Er konnte nicht fassen, was er gerade gehört hatte. Erst als seine Mutter nicht mehr hustete, sondern nach Luft schnappte wie eine Ertrinkende, löste sich die Starre. Aber als er den Notrufknopf drücken wollte, sah sie ihn panisch an und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Irgendwie gelang es ihr, sich wieder zu sammeln.
»Er lebt … hier … in der Nähe .... in...«. Seine Mutter versuchte mit Gewalt, ihm noch etwas mitzuteilen. Doch sie bekam kein Wort mehr heraus, ihr Gesichtsausdruck wirkte plötzlich wie eingefroren. Im selben Moment begann eines der Geräte heftig zu piepen, und nur Sekunden später stürzten die Ärztin und eine Krankenschwester ins Zimmer. Manuel saß noch immer wie gelähmt auf der Bettkante.
»Wir verlieren sie«, rief die Ärztin. »Raus hier!«
Manuel verließ den Raum wie in Trance und schlich in den Wartebereich, wo er sich auf einen Stuhl sacken ließ. Er stützte seine Ellenbogen auf den Knien ab und vergrub das Gesicht in den Händen. Er konnte es nicht glauben. Seine Mutter hatte ihm sein Leben lang erzählt, er sei das Resultat einer anonymen Samenspende. Doch das war offensichtlich eine Lüge gewesen. Unfassbar.
Als die Ärztin im Wartebereich erschien, wusste er nicht, wie viel Zeit vergangen war. »Wir mussten Ihre Mutter ins künstliche Koma versetzen«, sagte sie und blickte ihn vorwurfsvoll an. »Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollten jede Aufregung vermeiden.«
In diesem Augenblick hätte Manuel sie am liebsten derb beschimpft. Ein unangemessenes Wort für das weibliche Geschlechtsorgan lag ihm auf den Lippen, doch er brachte keinen Ton heraus. Vermutlich besser so. Stattdessen drehte Manuel sich wortlos um, ließ die Ärztin stehen und eilte nach draußen. Er brauchte frische Luft.
Читать дальше