Was er in den Stunden danach gemacht hatte, wusste er nicht mehr. Vermutlich war er ziellos rumgelaufen. Irgendwann, es war bereits dunkel, hatte sein Handy erneut geklingelt, und eine Krankenschwester hatte ihm lapidar mitgeteilt, dass seine Mutter es leider nicht geschafft habe. Ob er bitte wegen der Formalitäten nochmal herkommen könnte?
Jedes Jahr starben in Deutschland mehr als 4000 Menschen im Straßenverkehr, hatte Manuel kürzlich irgendwo gelesen. Doch erst jetzt, als es einen geliebten Menschen – den einzigen geliebten Menschen – getroffen hatte, wurde ihm bewusst, wie viel Trauer und Schmerz sich hinter dieser Zahl verbargen.
Der Moment, den Manuel fürchtete wie keinen zweiten, stand unmittelbar bevor. Die vier Träger hoben den Sarg seiner Mutter an und begannen, ihn in die Grube herab zu lassen. Manuel schloss die Augen. Waren es jetzt Tränen, die seine Wange herunterliefen? Oder Regentropfen? Egal. Er spürte weder Kälte noch Nässe. Nach einigen Sekunden öffnete er die Augen. Der Sarg war jetzt unten, in ungefähr zwei Metern Tiefe. Seine Mutter hatte ihre ewige Ruhestätte erreicht. Der einzige Ort, von dem es kein Zurück gab. Der Kloß in Manuels Hals schwoll wieder an.
Die Sargträger blieben noch einen Moment mit respektvoll gesenkten Köpfen stehen, bevor sie zurücktraten. Manuels Hand zitterte, während er als Erster ans Grab trat und nach der kleinen Schaufel griff, die in einem Eimer Erde steckte. Er hielt die Luft an, bevor er die Erde langsam auf den Sarg rieseln ließ.
Nach einem kurzen Blick hinterher ging er weiter, um einige Meter entfernt seine Position einzunehmen. Jetzt war nicht der Moment, um ausgiebig Abschied zu nehmen – beobachtet von so vielen Leuten und kurz davor, von der Trauer überwältigt zu werden.
Pärchenweise traten die Trauergäste ans Grab und kamen danach zu ihm, um ihr Beileid auszusprechen. Eine der ersten war Gaby Köhler, die engste Freundin seiner Mutter aus Studientagen. Ihr attraktives Gesicht war tränenüberströmt, und sie brachte kein Wort hervor, als sie Manuel so fest in den Arm nahm, dass er für einen Moment keine Luft mehr bekam. Ihr Mann Richard schüttelte Manuel die Hand und nickte ihm mit ernster Miene zu. Danach kam Heidi Winkler, die pummelige Sekretärin seiner Mutter. Die meisten anderen kannte Manuel nicht. Einige stellten sich vor und erklärten ihm, in welcher Beziehung sie zu seiner Mutter gestanden hatten. »Ich war eine Mandantin, und sie hat mir so sehr geholfen«; oder: »Ihre Mutter und ich kannten uns aus der Schule«. Manuel konnte sich nichts davon merken; er war vollauf damit beschäftigt, die Fassung zu wahren.
Am Schluss standen sein bester Freund Leon Gomez und dessen Freundin Marie vor ihm. »Danke, dass Ihr gekommen seid«, brachte Manuel mühsam hervor. Sie umarmten ihn schweigend.
Leon und Manuel waren seit dem neunten Schuljahr befreundet. Damals war Leon gerade mit seinen Eltern – die Mutter Deutsche, der Vater Spanier – aus Barcelona nach Düsseldorf gezogen. Der Klassenlehrer setzte den Neuen, der kaum Deutsch sprach, neben Manuel - und schuf auf diese Weise die Grundlage für eine lebenslange Freundschaft.
Manuel musste an den dürren Jungen denken, der damals in sein Leben getreten war. Wie sehr Leon sich seitdem verändert hatte: Inzwischen verrieten sein rundliches Gesicht und der leichte Bauchansatz, dass er großen Spaß am Essen und Trinken hatte. Und seine schwarzen gewellten Haare trug er seit einiger Zeit fast schulterlang. »Dadurch sieht mein Gesicht nicht so nach Vollmond aus«, hatte er verkündet und sein typisches ansteckendes Grinsen aufgesetzt.
Den Weg vom Friedhof ins nahegelegene Café Rosen, in dem er vier Tische für die Trauergäste reserviert hatte, legte Manuel schweigend zurück. Leon und Marie, die neben ihm gingen, sprachen ebenfalls kein Wort. Wie so oft in den vergangenen Tagen dachte Manuel an seine Kindheit zurück. Wie sehr hatte er sich einen Vater gewünscht. Einen, der ihm bei den Hausaufgaben half. Der mit ihm ins Fußballstadion ging. Der mit ihm ein Bier trank und laut rülpste. Wie sehr hatte er seine Mitschüler beneidet, wenn sie voller Stolz von ihren Vätern erzählten; von ihren tollen Jobs oder ihren coolen Sprüchen.
Und er? Den Großteil seiner Kindheit hatte er allein mit seiner Mutter verbracht. Sicher, sie hatte in dieser Zeit einige Partner gehabt, einer von ihnen – Bernd – war sogar für zwei Jahre eingezogen. Doch selbst er war nicht annähernd zur Vaterfigur aufgestiegen. Immer wieder hatte Manuel seine Mutter gefragt, ob es denn keinen Weg gebe, seinen echten Vater zu finden. Himmel, er hatte mit dreizehn oder vierzehn Jahren sogar bei der Samenbank angerufen und sich erkundigt, unter welchen Bedingungen sie den Namen eines Spenders rausrücken. Das sei völlig ausgeschlossen, lautete die knappe Antwort.
Und obwohl seine Mutter seine Sehnsucht gespürt hatte, gespürt haben musste, war sie stets bei ihrer Geschichte geblieben. Buchstäblich bis zum Tod. Gebetsmühlenartig hatte sie die Lüge wiederholt, immer und immer wieder: Sie sei als 21-Jährige nach einer gescheiterten Beziehung fürchterlich enttäuscht gewesen. Sie habe geglaubt, nie mehr einen Mann zu finden, mit dem sie eine Familie gründen will. Gleichzeitig sei ihr Kinderwunsch immer stärker geworden – wahrscheinlich, weil sie sich nach dem Tod ihrer Mutter unendlich einsam gefühlt habe. Und dann habe sie von dieser faszinierenden neuen Möglichkeit erfahren, der Befruchtung mit anonym gespendetem Sperma.
Manuel hatte in keiner Minute seines 25-jährigen Lebens an den Worten seiner Mutter gezweifelt. Sicher, nachts, wenn er nicht schlafen konnte, malte er sich immer wieder aus, wie plötzlich ein Mann vor ihm steht und sagt: »Ich bin Dein Vater. Hat Deine Mutter nie von mir erzählt?« Oder dass er einen Brief erhält, in dem sein Vater ihm mitteilt, dass er auf der Flucht sei und sich deshalb verstecken müsse. Aber dass er nicht mehr anders könne und seinen Sohn unbedingt kennenlernen wolle. »Bitte sei am Freitag um 15.30 Uhr am Delfin-Becken im Aqua Zoo und warte auf mein Zeichen...« Manuels Fantasie kannte keine Grenzen, wenn es darum ging, sich eine Begegnung mit seinem Vater auszumalen.
Selbst als Erwachsener fragte er sich beim Blick in den Spiegel regelmäßig, wie sein Vater wohl aussah. Hatte er ebenfalls dunkelblonde, kurz geschorene Haare? Verdankte Manuel ihm das schmale Gesicht, die hellblauen Augen und die Körpergröße von fast 1,90 Metern? War sein Vater dünn und schlaksig oder hatte er sich – wie Manuel – mit jahrelangem Muskeltraining eine kräftige Statur mit breiten Schultern erarbeitet?
Aber bisher hatte er sich stets nach kurzer Zeit ermahnt, dass es keinen Sinn mache, solchen Gedanken nachzuhängen. Dass seine Fragen unbeantwortet bleiben würden. Dass er nie erfahren werde, wer sein Vater ist.
Doch jetzt hatte er plötzlich eine Chance.
Aber wie sollte er ihn finden?
Wenn seine Mutter jemanden eingeweiht hatte, dann Gaby Köhler. Manuel beschloss, sie am nächsten Tag zu besuchen.
16.31 Uhr, Düsseldorf (LKA-Zentrale)
Herrschaftszeiten, sehen die wieder alle freundlich aus, dachte Elisabeth Hajek, als sie den Besprechungsraum betrat. Die sieben Mitglieder ihres Teams – allesamt Männer – saßen am anderen Ende des großen ovalen Konferenztisches und blickten sie abwartend an. Obwohl Elisabeth bereits seit gut zwei Monaten die Ermittlungsgruppe »Organisierte Kriminalität/Rauschgift« beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen leitete, fiel es den Fahndern schwer, ihre neue Chefin zu akzeptieren. Und irgendwie konnte sie das verstehen. Als ihr Vorgänger in den Ruhestand gegangen war, hatten alle erwartet, dass sein Stellvertreter Jens Böhmer den Chefposten erhält. Aber dann kam sie, die Kommissarin aus München, die nach ihrer Scheidung zurück ins Rheinland wollte. Und für die ein adäquater Posten gefunden werden musste.
Читать дальше