Genau so, wie Anne es jetzt auch tat. Sven war ihrem Blick gefolgt. Draußen bewegte ein lauer Wind die Blätter des Gummibaums. Anne spürte, dass Sven auf irgend etwas wartete, also stellte auch sie endlich ihr Glas ab und griff nach seiner Hand. Oh, wie entsetzt wäre ihre Oma über diese Eigenmächtigkeit ihrer Enkeltochter gewesen! In der Welt der Großmütter hatte die Initiative grundsätzlich vom Mann auszugehen.
Aber Anne und Sven hatten ihre eigene Welt, in der es jetzt nicht einmal mehr der Worte bedurfte. Wie selbstverständlich brachen sie gemeinsam auf.
Barfuß tobten sie am Strand entlang, setzten sich ans Meer und ließen den Sand durch die Finger gleiten, staunten über den tief hängenden Sternenhimmel, reckten ihre Gesichter der frischen Brise entgegen, die einen Geruch nach Freiheit vom Meer herüber trug. Alles geschah ohne viel zu sprechen. Doch keiner von beiden empfand die Stille als bedrückend. Im Gegenteil, sie fühlte sich gut an. Anne lehnte sich vertrauensvoll an seine Schulter und er wagte es nicht, sich danach noch zu bewegen.
Von irgendwo her erklang leise Musik, selbst diesen Klängen schienen sie andächtig zu lauschen, nicht jeder für sich, sondern gemeinsam, fast so, als seien sie beide zu einem einzigen Wesen verschmolzen, zwei Hälften, die lange umhergeirrt waren, um sich hier endlich zu begegnen.
Die Gitarrenklänge wurden stärker.
"Von dort drüben kommt die Musik", sagte Sven und wies auf ein flaches Gebäude hinter zwei riesigen Gummibäumen. Alle Fenster waren hell erleuchtet.
Anne löste sich von seiner Schulter, sah in die Richtung, in die er zeigte, nickte … und schwieg. Wollte sie etwas mehr Distanz schaffen?
"Wollen wir uns noch ein bisschen unters spanische Volk mischen?"
Die Befürchtung, dass sie seine Einladung womöglich doch noch ablehnen könnte, hatte seine Frage etwas gekünstelt klingen lassen.
Der Wunsch, sie einfach in den Arm zu nehmen, war fast übermächtig. Nur mühsam gelang es ihm sich zurück zu halten.
Er hatte es sofort gespürt: Sie war etwas Besonderes. Er durfte und wollte sie mit einer zu schnellen und zu plumpen Anmache nicht erschrecken. Zu wichtig war ihm ihr Lächeln schon geworden, das immer zuerst in den Augen aufleuchtete.
Wie jetzt. Der Moment der Distanz schien vorüber zu sein.
So wie Anne hatte sich Sven immer eine glückliche Frau vorgestellt.
Sie stupste ihn leicht vor die Brust und sagte fröhlich: "Au ja, das machen wir. Mischen wir uns unters Volk! Meinetwegen auch unters spanische! Außerdem könnte ein Gläschen Bauernwein auch nicht schaden…
Wieder traf ihn ihr entwaffnendes Lächeln. Diese Frau steckte anscheinend voller Überraschungen.
Von ihrem unerwarteten Entgegenkommen ermutigt, griff er nach ihrer Hand und zog sie einfach mit sich fort.
Sie mussten nicht weit laufen. Schon nach wenigen Minuten traten sie ein in die rustikale Gaststätte, als die sich der Bungalow erwies.
Wilden Gitarrenrhythmen und ein Stimmengewirr, in dem viele Sprachen vorkamen, umfingen sie. Es duftete nach gegrilltem Fleisch, Fisch und exotischen Gewürzen.
Niemand schenkte den Neuankömmlingen Beachtung, was beide nicht sonderlich störte. Für einen Moment blieben sie unschlüssig stehen, teils, weil sie dem Spiel des Gitarristen lauschten, teils, weil sie noch keine freien Plätze für sich entdecken konnten. Der Gitarrist steigerte sich zur Höchstform. Er entlockte seinem Instrument wahre Zaubertöne. Kein Wunder, dass sich alle zu ihm wandten und in die Hände klatschten.
Noch viel weniger wunderte sie, dass alle Plätze besetzt zu sein schienen.
Doch da steuerte auch schon ein Kellner auf sie zu, winkte und sie verstanden, dass sie ihm folgen sollten. Geschickt lotste er sie durch die tobende Menge, an der Wand entlang, bis zu einer kleinen Nische, in der sie ganz für sich waren. Erst von dort aus sahen sie, dass das Interesse der bunt zusammen gewürfelten Gästeschar nicht nur dem Gitarristen galt, sondern vielleicht noch mehr einer hoch gewachsenen, anmutigen Frau, die zu den wilden Flamencoklängen tanzte.
Aller Augen hingen an ihren wiegenden Hüften, am rhythmischen Stampfen und Drehen, das bewirkte, dass der schwarz-rote Rüschen-Rock immer höher flog und den Blick auf ihre schlanken, geraden Beine freigab. Ihr Temperament wirkte ansteckend, denn immer mehr Gäste sprangen auf und eilten zur Tanzfläche, um es ihr gleich zu tun.
Auch Sven und Anne drehten sich bald selbstvergessen im Kreise, gaben sich ganz der Musik hin, wie sie sich am Nachmittag für ein Weilchen dem Schaukeln der Wellen hingegeben hatten. Sie vergaßen Raum und Zeit bei diesen Tänzen, streiften ihre Sandalen ab und stampften mit nackten Füßen im Rhythmus der Musik, ihre Gesichter glühten. Sie fühlten sich wie in Trance. Aber allein vom trockenen Wein konnte dieser Zustand nicht kommen, denn sie hatten nur wenig davon getrunken, waren schnell zu "Wasser con Gas" übergegangen.
Trotzdem fühlte sich Anne so beschwingt und so wohl wie lange nicht. Vergessen waren der Stress in der Redaktion, die Sonntagsdienste und die langen Arbeitstage. Vergessen waren, was für ein Wunder!, selbst die Schmerzen im Unterleib.
Vergessen waren für Sven die Schufterei auf den Baustellen, die Auseinandersetzungen mit seinem Vater und seine Pflichten beim Ausbau des kleinen Häuschens im Nachbarort.
Beide lebten jetzt und hier, voller Lebensfreude und Hingabe an die Musik und aneinander.
Auf dem Heimweg hatten beide das Gefühl zu schweben. Sven verpasste absichtlich den Abzweig zum Hotel. Anne hatte das sehr wohl bemerkt, aber genau wie er nichts dagegen, den Abschied noch ein wenig hinauszuzögern.
"Ich danke dir für diesen wunderschönen Abend", sagte sie mit belegter Stimme vor ihrem Zimmer. Sie waren schon längst zum vertraulichen Du übergegangen.
Am Ende des Abends wussten beide mehr voneinander als sie es vorgehabt hatten sich gegenseitig zu erzählen. So war bald klar gewesen, dass sie nicht nur aus dem selben Ort kamen, sondern auch, dass sie zur Zeit solo waren. Anne wusste von Sven, dass er Maurer ist und er von ihr, dass sie als Sekretärin in der Lokalredaktion einer Tageszeitung arbeitete.
Aha , hatte er gedacht, deshalb nimmt sie es mit den Wörtern so genau . Ihm fiel wieder ein, dass sie ihm schon gleich nach der Ankunft im Hotel den Unterschied zwischen die selbe und die gleiche Tasche erklärt hatte. Ihm war nicht wohl gewesen dabei. Auch jetzt zuckte wieder, wenn auch nur ganz kurz, der Gedanke auf, dass sie vielleicht doch viel zu schlau für ihn sei. Doch das, was soeben erst aufgekeimt war, gleich wieder vergessen? Nein, das würde er auf gar keinen Fall wollen und auch nicht fertig bringen. Also nahm er sich vor, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um alle sprachlichen Wissenslücken zu schließen. Er hielt das für die einzige Chance für das Fortbestehen ihrer ungleichen Verbindung.
Sofort keimte auch Hoffnung auf, die sein Herz schneller schlagen ließ.
Sven, sonst eher ein zurückhaltender Typ, staunte über sich selbst, dass er sich schon am ersten Tag ihres Kennenlernens mit solchen Gedanken trug.
Ein Leben mit Anne? Oh nein, das war kein so abwegiger Gedanke, wie er vielleicht noch vor vierundzwanzig Stunden gedacht hätte. Im Gegenteil, seine Gefühle schlugen Purzelbäume bei jener Vorstellung.
Doch irgend etwas in seinem Inneren warnte ihn auch, bei ihr gleich aufs Ganze zu gehen.
Sein Respekt vor ihr hatte im Laufe des Abends immer mehr zugenommen. Sven war sich zwar nicht bewusst, dass er Anne selbst auf einen Sockel stellte, aber dass sie hoch über ihm stand und dort auch hingehörte, fühlte er instinktiv.
Trotzdem wagte er sich mutig vor und legte auf dem Heimweg seinen Arm um ihre Schultern. Doch der Gutenachtkuss vor ihrer Zimmertür schien eher freundschaftlich gemeint zu sein.
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