Sein Blick wurde noch strenger: „Sollten sie sich dem nicht fügen, verspreche ich ihnen, dass sie in München keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen. Glauben sie mir, meine Verbindungen gehen über die ganze Stadt. Sind sie, Herr Kessler sich eigentlich bewusst, was sie hier angerichtet haben? Ich glaube nicht! Abschließend verbiete ich ihnen jeglichen Umgang mit meiner Enkelin! Halten sie sich daran Herr Kessler, in ihrem Interesse…!“
So massiv im Auftreten und in der Art und Weise, seine Rede zu führen, hatte Sophie ihren Großvater noch nie erlebt. Jetzt reichte es! Nachdem sie sich durch einen kurzen Blick verständigt hatten, standen die zwei auf, drehten sich um und verließen das Haus. Wort- und Grußlos. Christian fuhr die kleine Straße hinunter. Nur weg hier! Als er, kurz vor dem See, rechts einen Waldweg sah, bog er ab, hielt und stellte den Motor aus. Sofort löste sich die ganze Anspannung der beiden in haltlosen Weinkrämpfen.
Irgendwann beugte sich Christian zu Sophie hinüber und sagte: „Wir werden zusammenhalten! Wir lassen uns das nicht gefallen! Das darf doch alles gar nicht wahr sein!“ Völlig verzweifelt und tränenüberströmt schaute sie ihn an: „Begreif‘ es doch, Christian! Wir haben keine andere Wahl! Du kannst dir nicht vorstellen, welche Macht mein Großvater hat. Die kann er noch viel schlimmer ausspielen als er es dir angedeutet hat. Ich werde dich immer lieben und vielleicht haben wir ja auch in ein paar Jahren eine gemeinsame Zukunft, aber jetzt werde ich seinen Anweisungen folgen, ohne Wenn und Aber!“
Christian sah in zwei Augen die völlig gebrochen waren und genauso fühlte er sich jetzt auch.
Er startete den Motor und fuhr los, Richtung München. Die beiden sprachen kein Wort. Am Prinzregentenplatz angekommen, stieg er aus, öffnete Sophies Wagentür und versuchte sie noch einmal in die Arme zu nehmen. Doch Sophie riss sich los, lief schluchzend zur Haustür und verschwand – ohne sich noch einmal umzudrehen – im Eingang.
Nachdem die schwere Tür ins Schloss gefallen war, setzte sie sich auf die unterste Treppenstufe und weinte jämmerlich. Ihre ganze, schöne Welt war zusammengebrochen! Alles, was ihr lieb, teuer und wichtig war, hatte sie mit einem Schlag verloren. Das gesamte Glück der letzten Wochen, ihr bisheriges Leben, lag binnen zwei lächerlicher Stunden in Trümmern.
8. April 1951 - Friedrichs Geburtstag
Ein Schneeschauer fegte über den See. Doch die Frühlingssonne hatte schon ausreichend Kraft, um den Kampf gegen den kurzen Wintereinbruch zu gewinnen. Schnell wurde der Himmel wieder blau.
Das Kreiskrankenhaus, mitten in Tegernsee, war ein anerkanntes Hospital. Katholisch geführt. Schwestern und Ärzte bildeten ein hervorragendes Team und waren bekannt für ihre besondere Herzlichkeit und persönliche Anteilnahme.
Der strahlende Himmel passte aber so gar nicht zu Sophies Stimmung. Sie presste und presste – bereits seit Stunden. Es muss ungefähr 14:00 Uhr gewesen sein, als die Ärztin den erlösenden Satz sprach: „So meine Kleine, jetzt hast du es gleich geschafft!“ Das nächste was Sophie hörte, war ein herzzerreißender Schrei. Frau Dr. Bäumer strahlte über das ganze Gesicht! „Es ist ein Junge und was für ein schönes Baby! Willkommen auf dieser Welt!“ Sophie verlor kurz das Bewusstsein. Die schwere Geburt war – besonders für ein so junges Mädchen – eine fast schon übermenschliche Anstrengung gewesen.
Gegen 14:30 Uhr kam sie wieder zu sich. Die Schwester war gerade dabei ihren Puls zu zählen und den Blutdruck zu messen. Sophie schaute sie an und fragte: „Wo ist mein Sohn?“ Schwester Inge ging überhaupt nicht auf ihre Frage ein und antwortete stattdessen: “Puls, Blutdruck alles bestens – und draußen wartet schon Besuch auf sie. Darf ich ihn hereinbitten?“ Sophie nickte. Obwohl sie noch vollkommen verschwitzt war, fühlte sie sich allmählich schon besser.
„Sophie, meine Liebe, schön zu sehen, dass du schon wieder lächeln kannst. Sei froh! Denn jetzt hast du es hinter dir.“ Alois Dietl nahm sich einen Stuhl, setzte sich ans Bett und streichelte die Hände seiner Enkelin. “Wo ist mein Kind, Opa?“ „Tu mir einen Gefallen, Sophie und frage mich das nicht mehr, denn du weißt ganz genau, dass du dein Kind niemals sehen wirst.“ „Aber doch wenigstens einmal! Bitte, Opa!“
„Nicht ein einziges Mal, glaube mir, das würde alles nur noch schwerer machen. In einem Monat hast du auch das überstanden, vertraue mir. Ich werde dich schützen und dir dabei helfen!“
Sophies gute Laune ging etwa genauso schnell in den Keller wie ihr Blutdruck. Als Alois Dietl sah, wie sie immer bleicher wurde und die Augen verdrehte, rannte er aus dem Zimmer und rief: “Schwester Inge, kommen sie schnell, ich glaube, Sophie wird ohnmächtig!“
Kurt Eichner, 40 Jahre alt, Politischer Chefredakteur bei der Hessischen Allgemeinen Zeitung in Kassel, kam gegen 22:30 Uhr nach Hause. Seine Frau Anneliese hatte ihm – wie jeden Abend – ein paar Brote als Nachtmahl hingestellt. Wie immer, leistete sie ihm noch für eine Weile Gesellschaft und dabei ließen sie den Tag Revue passieren. Ein kleines Ritual, das beide liebten. Als Journalist bei der größten Tageszeitung in Kassel hatte Kurt – besonders in dieser Nachkriegszeit – stets aktuellste Informationen, die sie sehr interessierten.
Oftmals kam es vor, dass noch kurz vor dem Umbruch der Zeitung, die eine oder andere Meldung nachgeschoben wurde, so dass er selten vor 22:00 Uhr Feierabend machen konnte. Anneliese schlief oft schon, wenn er heimkam.
Heute jedoch am Freitag, war es anders als sonst. Sie hatte sich besonders hübsch gemacht, sogar etwas geschminkt und erwartete ihn hellwach im Wohnzimmer. Eine Flasche Weißwein aus Rheinhessen war schon geöffnet. „Guten Abend, Anni – was ist denn hier los? Haben wir etwas zu feiern?“ Kurt entledigte sich seiner Krawatte, streifte die Straßenschuhe ab und machte es sich bequem.
Gerade mal ein halbes Jahr war es her, dass Anneliese ihre zweite Fehlgeburt verkraften musste. Wochenlang litt sie danach unter Depressionen. Viel Kraft hatte es gekostet, den Mut nach dieser erneuten Enttäuschung nicht zu verlieren.
„Ich war heute Mittag bei Dr. Bertram und hatte auch ein längeres Gespräch mit ihm. Was wir beide leider schon befürchtet haben, ist jetzt Gewissheit, Kurt. Er riet mir dringend auf eine dritte Schwangerschaft zu verzichten, weil das Risiko für mich selbst einfach zu groß wäre. Er meinte sogar, dass es lebensgefährlich sein könnte und ich denke, mit Vierzig möchtest du wahrhaftig nicht zum Witwer werden?!“ „Um Gottes Willen, natürlich nicht, das wäre ja nicht auszudenken!“ „Dr. Bertram riet uns deshalb zu einer Adoption. Er ist sicher, uns mit seinen guten Beziehungen helfen zu können, zumal sein Draht nach Bayern nie abgerissen ist. Du weißt ja, bevor er sich hier niederließ, arbeitete er in Tegernsee in einem Krankenhaus. Er würde sich, wenn wir beide damit einverstanden wären, sogar selbst vor Ort für uns einsetzen.“
Kurt lächelte seine Anneliese an. “Es ist seltsam, auf dem Heimweg hatte ich ähnliche Gedanken. Da sieht man halt mal wieder, wie eng wir miteinander verbunden sind. Einfach wunderbar!“ Er nahm das Weinglas und prostete ihr zu. “Trinken wir auf unseren Bayern, meine Liebe! Weißt du, in meinem Alter wird es jetzt wirklich bald mal Zeit, dass ich Vater werde. Schließlich möchte ich ja auch noch erleben, dass wir Enkelkinder bekommen!“
„Du machst mich so glücklich, Kurt. Aber ich wusste ohnehin schon, dass du dazu bereit bist.“ „Ich werde versuchen Urlaub zu bekommen und dann könnten wir am besten schon am Wochenende nach Bayern fahren, dort zwei schöne, freie Tage genießen und uns dann gleich am Montag in diesem Kinderheim informieren. Sofern ich noch irgendwelche Referenzen brauche, bin ich mir sicher, dass mein Verleger bei der „HESSISCHEN“ mich mit einer positiven Beurteilung unterstützen würde. Gerade heute Mittag hat er mir noch versichert, wie viel er von mir hält.“
Читать дальше