»Einer Studie zufolge konsumieren Jugendliche, die frühzeitig rauchen, auch frühzeitig Alkohol - und umgekehrt. Zumindest die über fünfzehnjährigen. Viele Eltern wollen die Probleme ihrer Kinder nicht sehen, scheuen die Auseinandersetzung. Sie glauben, dafür keine Zeit zu haben. Was aber noch schlimmer ist, die Kinder wissen gar nicht, was Alkohol anrichten kann. Nicht einmal die sofortigen Folgen sind ihnen klar. Deshalb will ich …wollen wir andere Wege gehen …«
»Sie mögen ja ein kluges Kerlchen sein, Herr ... «
»Stein. Jan Stein. Ich bin Pattricks Klassenlehrer. «
Herr Lörmann vollzog einen Schwung seiner Hand, als wollte er eine lästige Fliege vertreiben. Aber es gab in diesem Winter keine Fliegen. In keinem Winter …
»Herr Stein also. Dann ahnt man ja, was Ihre Beliebtheit ausmacht. Statt Vorbild zu sein, wecken Sie den Teufel in unseren Kindern. «
Er kam sich vor, als redete er gerade mit einem Schüler, der partout nichts lernen wollte. Den Sohn dieser Leute hatte er bereits als einen von der Sorte kennen gelernt, der Alkohol als größten Spaß des Lebens pries. Es drängte ihn, sich umzudrehen und einfach zu gehen. Aber das verbot er sich. Er hätte den Leuten zu gerne sagen wollen, dass Pattrick längst den Teufel im Leib hat. Er glaubte sogar, Pattrick habe so manch einen mit seiner Erfahrung beeinflusst, er kann der Wirkung von Alkohol trotzen, wenn er will. Er sagte es diesen Leuten nicht. Wer wütend ist, sollte gar nicht reden. Was aber taugen guten Vorsätze gegen schlechte Absichten?
»Wenn Sie glauben, Ihr Sohn ist ausreichend auf die Gefahr eingestellt, wo liegt dann Ihr Problem? Wir zwingen keinen Schüler an diesem Experiment teilzunehmen. Wir erwarten sogar die Einwilligung der Eltern. «
»Sie erwarten also? Wissen Sie, was wir erwarten …? « Der Mann schnappte nach Luft und schob seine gut gefüllte Körperwölbung um einiges nach vorn.
»Wir erwarten, dass Sie diesen Blödsinn sofort lassen. « Dann schickte er sich an zu gehen, als ihm noch etwas Gewichtiges einfiel: »Und wenn niemand der Eltern reagiert, wir sind agieren gewöhnt. «
Was diesen Vater betraf, mochte das stimmen. Das wir indes war überflüssig. Seine Frau hatte kein Wort mehr dazu gesagt. Offenbar war sie nur Staffage für den Herrn, dessen Position er damals nicht kannte.
Klar war ihm nur, diese Leute waren nicht zufällig hier. Sie hatten genaue Informationen …◄
Das Rad beginnt sich zu drehen
Zwei Tage danach kam mit erstaunlicher Konsequenz die offizielle Vorladung ins Direktorinnen-Zimmer.
Waltraud Geyer thronte hinter ihrem Schreibtisch, als stünde am Ende jeder einzelnen Nervenbahn ein Schnellfeuergewehr. Ihre Worte erinnerten an einen bis zum Zerreißen gespannten Bogen. Das gerötete Gesicht zuckte unkontrolliert, als sie sprach. Er traute sich herauszulesen, dass es nicht um Peanuts ging.
»Eine Anzeige? Was für eine Anzeige? «, stellte er sich unwissend.
»Eine Beschwerde«, relativierte sie. »Familie Lörmann war bei Schulrat Jurack. «
»Familie Lörmann. «
Nicht der Name senkte seine Stimme zum Abfälligen hin. Es war sein Gefühl, das ihn auf einen Gedanken brachte: Pattrick schien keinen Schimmer vom Auftritt seiner Eltern zu haben. Dieser bauernschlaue Junge hätte seinen Eltern den Schritt zum Schulrat erfolgreich ausgeredet. Pattrick ist gewieft. Kann sein, die Eltern haben ihm ihr Vorhaben verschwiegen weil sie wissen, dass Pattrick längst trinkt.
Diese Eingebung taugte nicht. Lörmann hätte auf diese Weise seinen Sündenbock gefunden, falls es einmal Probleme mit Pattrick geben sollte – und die waren absehbar?
»Sie können Klartext reden«, sagte er endlich zu Waltraud Geyer, doch er konnte sich nicht konzentrieren. Nicht auf das Problem, das eigentlich keins war. Auch wenn er die Geyer jetzt nicht ansah, so brannte das Bild ihres ersten Blickes noch in ihm. Seine Nackenhaare sträubten sich und ihm ging durch den Kopf, dass auch die Direktorin des Heine-Gymnasiums nicht überall Freunde hatte.
»Doktor Jurack hat große Bedenken hinsichtlich nötiger Handlungskompetenz. Und er hat mich gefragt, ob wir keine anderen Probleme hätten. «
»Diese und noch viel mehr. Als die Schulungsmaßnahmen liefen, war ich der Einzige, den man melden konnte. Damals sagte Juraks Vize: Für eine Großstadt wie unsere wäre Ignoranz bei einem gesellschaftlich so relevanten Thema mehr als fatal. «
Waltraud Geyer selbst hatte seinerzeit zugestimmt, wenn auch zähneknirschend. Insgeheim sprach sie ihm jegliche soziale Kompetenz ab. Er war wegen seiner Redensarten für sie der respektlose Lümmel aus der hinteren Bank, dem nur aus Versehen geglückt war, an diese Schule zu kommen.
»Wenn Herr Jurack sich dafür interessiert hätte, würde er jetzt anders reden und ich würde mich mit dem Problem nicht so alleingelassen fühlen…« Alleingelassen … Das war kein direkter Angriff, aber es ging auch gegen die Geyer. Er würde einen Teufel tun, seiner Vorgesetzten zu verraten, dass selbst der feine Herr von der Suchtberatung das Experiment ablehnte. Was blieb? Er musste den Kampf nach vorn angehen. »Es geht doch dabei um weit mehr. Wir haben einen Erziehungsauftrag. In punkto Alkohol sind die meisten Lehrer hilflos überfordert. Es gibt keine klaren Regeln. Das Einzige, was uns einfällt, ist striktes Vermeidungsverhalten.“ Er räuspert sich vorsichtshalber. „Und auch jetzt, wo sich eine praktische Möglichkeit bietet, verlangt man von uns, wir sollten den Schwanz einziehen ... «
»Bitte! Mäßigen Sie sich. «
»Sorry, aber es gibt Verweise bei Schneeballwürfen. Es gibt Maßnahmen bei Disziplinverstößen. Wir kennen Hunderte von Regeln. Stufenabstände und Handläufe an Treppen zum Beispiel, um keine Stürze zuzulassen. Aber diese Art Abstürze kümmern keinen. Wir Lehrer erleben doch bei jeder Klassenfahrt, bei jeder Schulparty, den riskanten Umgang unserer Schüler mit Alkohol. Warum sieht man hier keinen Bildungsbedarf? «
»Na, na. Übertreiben Sie mal nicht. «
»Die Schule wäre der ideale Ort für dieses Thema. Was machen wir? Wir verlagern es nach Nirwana. «
»Kollege Stein …«
»Aus meiner Sicht ist in Punkto Alkohol nicht einmal die Einflussnahme auf die Eltern, ja die ganze Batterie an gesetzlich geregelten Verboten tauglich, solange die Jugendlichen im Erlernen ihrer Verantwortung keine gangbaren Wege sehen. Es gibt nicht wenige, die ihren positiven Effekt des Rausches längst ausmachen. Soll man da wegschauen? Erst wenn die Schüler die Wirkungsweise ihres Trinkverhaltens selbst erkennen, werden sie auch verstehen. «
»Kollege Stein. Jetzt ist weder die Zeit noch der Ort, um Grundsatzfragen zu erörtern. Und ich will ehrlich sein. Hätte ich gewusst, wie stark die gesellschaftliche Ablehnung ist – die kollegiale sogar - ich hätte Sie das niemals machen lassen. Kommen wir noch raus aus der Sache? «
»Ich arbeite daran, dass wir alles auf noch viel breitere Basis bekommen. «
Er dachte gar nicht daran zu verraten, was er wusste. Die Koordinatorin des Projektes selbst beklagte, wie schleppend sich die Sache gestaltete.
Die Kontroversen entmutigen.
»Mit kollegialer Ablehnung meinen Sie Frau Hensel? «, kam zugegeben ein bisschen abfällig heraus. »Ich kann Sie beruhigen. Frau Hensel hat andere Gründe. « Wut und Zweifel kämpften einen Augenaufschlag lang in ihm, dann war der Sieg entschieden. »Wenn zwei ungewöhnliche Experimente an einer Schule laufen, eins nicht beachtet wird, das andere in medialem Interesse steht, dann ist das bedauerlich. Aber es darf nicht dazu führen, dass aus ganz persönlichen Gründen eines in Misskredit gezogen wird. «
Die Augenlider von Waltraud Geyer zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. Es dauerte eine Weile, ehe sie erwiderte:
Читать дальше