»Niemand zieht irgendetwas in Misskredit. Und was Sie persönlich mit Frau Hensel haben, das machen Sie bitte auch persönlich mit Frau Hensel aus. In einem stimme ich ihr zu. Eine anerkannte Prävention wäre der Schule besser bekommen. « Die Geyer quälte sich beim Reden. »Ich denke, jeder hat in unserer demokratischen Grundordnung ein Recht, seine Meinung zu äußern. Frau Hensel macht lediglich sich Sorgen. Und wenn ich ehrlich bin, sorge ich mich auch. «
Obwohl er sich fragte, was gegen die Anerkennung eines Landes-Projektes sprach, legte er großen Wert darauf, die Sache nicht unnötig aufzubauschen. Also schwieg er, und er ignorierte Vera Hensels »Sorge«. Da brodelte seit Langem etwas in löchrigen Töpfen, was einen guten Zweck vereiteln könnte. Ob Vera den Ruf der Schule retten, oder seinen Ruf beschädigen wollte, beantwortete er sich nicht. Und eigentlich will er überhaupt nicht mehr über Vera Hensel nachdenken.
»Falls es die Kritiker beruhigt, wir geben keinen Cent für Alkohol aus …«
Die Geyer, die noch eben nervös auf der Schreibunterlage herumgekritzelt hat, zog ihren Blick von unten herauf, als hole sie tief Luft. Er kam ihr zuvor. »Entweder ich finde noch einen Förderer, oder die Eltern zahlen. Mehr als zwei Euro macht das nicht aus. «
»Da bin ich in der Tat beruhigt. «
Ihrer Miene nach zu urteilen glaubte die Direktorin nicht daran, dass Eltern auch nur einen Cent für Alkohol rausrückten. Und langsam glaubte er selbst nicht mehr daran.
Während die Geyer die aufstrebenden Ecken des Papiers ihrer Schreibunterlage nach unten bog, wurde ihr Ton schärfer: »Wenn eine Sache keine Lobby hat, muss man freiwillig einen Schritt zurück.« Die Geyer hatte ein eigenartiges Lauern im Blick. »Und noch etwas: Familie Lörmann bleibt unerwähnt. Dass wir uns da verstehen. «
»Verstehe. «
Er wollte einen Teufel tun, seine Vorgesetzte noch einmal zu piesacken. Er wollte stillhalten, bis die Sache in trockenen Tüchern ist. Offenbar hatte die Geyer in ihrer Rage die Sache mit der Fernseh-Reportage überhört.
Und dann kam ihm eine Idee. Genau die Sache mit dem Fernsehen könnte an Veras Neidmäntelchen zerren. Und noch etwas könnte Vera gewaltig an die Nieren gegangen sein: Die Niederlage vor der Rohloff. Daran zumindest war er nicht schuldlos. Dieser Gedanke straffte seine Lippen: Wie man in den Wald hineinruft …!
»Es ist übrigens nicht nur Frau Hensel. Auch andere Kollegen lehnen Ihr Ansinnen strikt ab. Kurt Bergholz meint: Wer sich auf Teufel komm raus betrinken will, der wird es nun erst recht tun. Und, man sollte rigide gegen jede Art Kontakt der Jugend mit Alkohol vorgehen. « Sie zog die Schultern an und wandte sich einer Mappe zu, die vor ihr lag. »Wir Alten haben so unsere Erfahrungen. «
Vera Hensel hatte dieselben Worte gebraucht! Hatte sie nötig, Kurt Bergholz zu imitieren? Bergholz hat keinen Arsch in der Hose. Der wartet nur noch auf seine Pensionierung und scheißt jeden Schüler an, der auf dem Schulhof eine Hand voll Schnee ergreift.
»Erdreistet sich Kollege Bergholz auch zu sagen, in der Landesregierung sitzen nur unerfahrene Leute? Zwei Sucht-Experten haben das Projekt entwickelt. Auch nur unerfahrene Greenhorne? Wenn mir jetzt jemand dazwischen funkt, ich weiß nicht, was ich anstelle. « Er blieb bei einem sturen Unterton, das konnte der Geyer nicht entgangen sein.
»Das Beste wird sein, wir halten den Schaden erst einmal flach«, entschied die Geyer, als er schon aufgestanden war, um zu gehen.
»Schaden? Es ist niemand zu Schaden gekommen und es wird auch nie jemand zu Schaden gekommen. Die Sache ist sehr gut geplant. Aber ich sage gleich, es nutzt gar nichts, wenn wir das Experiment auf eine Klassenstufe beschränken. Wenn es funktionieren soll, müssen wir in die Breite. Wir können gar nicht mehr schadlos aus der Sache heraus. Ich bin mit viel Geld trainiert worden und ich arbeite bereits an der Durchführung. Die Eltern werden detailliert über ihre freie Entscheidung informiert; sie können das Experiment notfalls ablehnen. Was mir viel größeren Kummer macht, ist der Tropfen auf den heißen Stein. Es braucht Vertrauen und Akzeptanz. Leider geht das mit der Akzeptanz nicht so schnell. Frühestens nach mehr als einem halben Jahr haben wir erste Gewissheit, was es genau bewirkt hat. Erst dann können wir andere Schulen überzeugen, es uns gleichzutun. «
»Halten Sie sich um Gottes Willen zurück. Von wegen Ausdehnung auf andere Klassen! Die Wellen schlagen schon hoch genug. Aber falls Ihnen tatsächlich das Wohl der Schüler so sehr am Herzen liegt, da läuft gerade eine Initiative, gefördert von Bahn-See. Irgendwas mit Hacke voll . Dort gehen Sie hin. «
»Was soll das bringen? «, fragte er.
»Das wird Sie vielleicht heilen von Ihrer Schnaps-Idee. Es gibt viele Wege, ein Ziel zu erreichen. «
»Selbst wenn alle denselben Weg wählen, kann er in die Irre führen. Nur der Mutige tritt eigene Spuren in den unberührten Sand. «
Wütend verließ er das Zimmer. Jedes noch so logische Argument war zwecklos.
Draußen wollte er mit dem Fuß die Wand malträtieren. Er zügelte sein Temperament. Schlaf eine Nacht darüber, Jan Stein. Jeden Tag gibt es einen neuen Himmel. Morgens ist er besonders klar.
Wie befohlen saß er in der Aula einer fremden Schule und ließ irrwitzige Tänze eines Kabarettisten über sich ergehen. Aus den Lautsprechern dröhnte James Browns »Sex Machine«. Die Zuhörer um ihn herum waren ähnlich ratlos wie er. Zwei Kerle pöbelten lauthals. Der Mann auf dem Podest schmiss die beiden kurzerhand raus. Hackedicht, so schien der schwankende Kerl. Er lallte, trötete durch seine Koks-Nase und glotzte ziemlich bekifft in die Reihen. Zwei Stunden lang schaffte sich der Kerl mit dem wirren Haar und dem Vogelgesicht, und langsam begriffen alle, lachen war erlaubt, auch wenn es um Ernstes ging: Kiffen, Koksen, Rauchen, Trinken. Das ganze Repertoire hatte der Künstler auf dem Programm.
»Mit Pestiziden verseuchter Dreck …! « brüllte er in die Menge.
»Man versucht, euch systematisch ins Gehirn zu scheißen. Wer? Eine aberwitzig, große skrupellose Industrie! «
Eindrucksvoll. Aber lockt das einen aus seinem Kick?
Zwei Mädchen hinter ihm, die etwas spät erst hereingeschlichen waren, redeten miteinander, während der Künstler ekstatisch über die Bühne tobte: »Zu spät«, raunte die eine. »In meiner Klasse rauchen viele schon seit Jahren. «
Vom Saufen sagte sie nichts.
»Lass΄ ma΄ «, meinte die andere. »Ein Sinn steckt trotzdem drinne .«
Wenn ihn etwas stark interessierte, dann war es genau der Sinn, den das Mädchen sah. Aber den erfuhr er nicht.
Es gab auch in seiner Schule viele Schüler, die weder rauchten noch tranken. Mutige bekannten sich dazu. Noch mutigere versuchten, andere positiv zu beeinflussen. Die kleine Nina Joswig war bisher eine von denen – so glaubte er damals noch - und ihre Freundin Marie Just, beide aus der Neun A. Leon Berger aus der Neun B und noch einige andere. Alles phantastische Typen. Die Dauer-Trinker sind nur eine Handvoll. Aber jeder einzelne kann einen anderen mit in den Sumpf ziehen, und jeder einzelne ist einer zu viel.
Noch einen setzte der Künstler auf der provisorischen Bühne drauf: Den entwürdigenden Vorgang des Kotzens. Brüllendes Gelächter. Und dann – eisige Stille, als er von seinem Kumpel erzählte, der seine Sucht nicht überlebte.
Wie plötzlich die Worte seinen eigenen Erfahrungen glichen. Auf ähnliche Weise hatte er seinen Freund Gerd verloren. Was aber, wenn es keinerlei Erfahrungen gibt?
»War das ein Programm, das dich abhalten könnte von dem Zeug? «, fragte er die beiden Mädchen auf dem Weg nach draußen. Eine hob ihre Schultern, grinste und sagte: »Klar, echt witzig. « Die andere meinte trocken: »Ich brauch jetzt erst mal ´ne Fluppe. «
Читать дальше