»Einstein hatte ΄n Ableger? «
»Relativ zwei. Theoretisch sogar drei. «
Der bullige Maik Gerber in der letzten Bank schob das Kontrollblatt von sich weg und stöhnte:
»Ohne Scheiß, Herr Stein, bei der Abschluss-Prüfung brauche ich ΄ne Hirnprothese, sonst muss ich voll abkacken . «
»Wenn du den Damen auf der hinteren Bank einen Gefallen tun könntest, das Ganze noch einmal in Deutsch bitte. «
Die Hälfte der Schüler kicherte. Einige drehten sich verstohlen um, andere senkten ihre Köpfe tief über die Arbeiten und nutzten die Unruhe, um beim Nachbarn zu spicken.
»Sie sind unser X-Man und nicht die …«, er verdrehte seinen Kopf nach hinten, seine Augen folgten der Richtung nicht, »… aus der Savanne. «
Respektloser ging es kaum. Es ärgerte ihn aber sein Ziel hieß Kurztest und das durfte er nicht gefährden, auch nicht mit dringend nötigen Moralpredigten. Die Schüler kennen ihre Rechte besser als ihre Pflichten.
Sein Ton wurde energisch: »Seit wann gibt es diese Verbalflatulenzen im Unterricht! «
Er sah, wie Vera Hensels Gesicht u einer sonnenumfluteten Savanne glich. Sein innerer Frieden mit Maik war auf kuriose Weise besiegelt, laut sagte er: »Wir reden nachher noch einmal darüber. Jetzt macht hin. Es ist nicht meine Zeit, die ihr vergeudet. «
Im Handumdrehen bekam das Stöhnen in den Bänken wieder die Oberhand. Das kleine Jauchzen in seiner Brust nahm langsam Überhand.
Aus der Savanne also? Er wusste, was bei der Jugend Savanne zu bedeuten hat; Vera Hensel wusste es gewiss nicht.
Der Rest der Zeit lief ungleich schlechter. Kein Stöhnen mehr, auch kein fröhlicher Aha-Effekt. Kaum einer glaubte noch, die richtigen Lösungen gefunden zu haben. Es war seine Schuld. Kein einziges Mal mehr hat er versucht, die Verkrampfung der Geister zu lösen. Manchmal half ein cooler Spruch, mal ein versteckter Hinweis auf eine Formel, einen Lösungsansatz. Wer um die Ecke denken konnte, dankte es ihm mit seiner Achtung. Die Klasse hatte Achtung vor ihm. Ihre Art Achtung.
Warum hatte Maik seinen Tipp auf den Dreisatz nicht richtig gedeutet. Warum erheiterten die Worte so sehr? Sie alle wussten längst, dass Maik Gerber heimlich trank. Und nur das hatten sie herausgehört. Vielleicht aber waren sie ebenso wenig locker wie er an diesem Morgen. Manchmal glaubten die Schüler, da hinten säßen die Hospitierenden allein ihretwegen. Er konnte ihnen schlecht sagen, warum die Damen hospitierten. Er hat es selbst nicht verstanden. ◄
Bis zu dieser tristen Stunde des Wartens auf dem ungastlichen Klinikflur ist ihm Veras Absicht nebulös geblieben.
►Als alle Arbeiten auf dem Lehrertisch lagen, kam ihm die Idee, die Willkür nicht hinzunehmen.
»Frau Hensel und Frau Rohloff sitzen nicht von ungefähr in dieser Klasse. Es gab da eine Beschwerde. Die Neun B sei schwierig …«, seine Geste zielte auf Unverständnis. »Jetzt habt ihr die Chance, Frau Hensel zu erklären, warum ihr …bei ihr … schwierig seid. «
Die Blicke der Mädchen fixierten die Tischplatten. Nur hin und wieder schielte eines auf einen der Jungen, um zu erraten, was sie zu tun gedachten. Die saßen lässig in den Bänken, nur Typen wie Leon Berger kritzelten beflissen auf ihren Blöcken herum oder kramten unruhig in ihren Utensilien. Nach minutenlangem Schweigen, das er genoss, wie sonst nie, holte er aus. Er konnte sehen, wie Vera innerlich überschäumte.
»Ach. Feige seid ihr auch. Auf spickmich ist es leichter, euren Flatus an Lehrerschelte abzulassen. «
Noch immer Schweigen, wenn auch kein starres mehr. Die Unruhe saß in den Leibern, offenbar noch nicht in den Köpfen.
»Wie soll ein Lehrer – oder eine Lehrerin – wissen, was euch nicht gefällt, wenn ihr schweigt. Wir sind alle keine Hellseher. Und glaubt nicht, dass uns die Interessen unserer Schüler kalt lassen. «
»Einigen schon«, maulte Tim Hobeck, der rasch noch seine vordere Haarsträhne einseitig vor das linke Auge zog. Er hasste diese Frisuren, die so gar nichts Männliches hatten. Bei den Mädchen waren sie schlimm genug. Irgendwann würde diese Generation dem schielenden Opossum Heidi Konkurrenz machen.
»Na ja, Herr Stein«, bequemte sich Torben Meyer, der viel zu naiv ist, um der Wahrheit einen rosigen Anstrich zu geben. »Es ist zum Beispiel bei Frau Hensel nicht so interessant wie bei Ihnen. «
»Und warum. Was sollte anders sein? «
»Schon dieses Pokerface. « Kaktus drehte sich rasch nach hinten um, zog die Schultern an und redete gegen Pattrick Lörmann gerichtet weiter: »He - das sagt ihr doch auch immer: Versteinert wie die Sphinx. Kein Lachen. Kein einziger Witz …Und diese grelle Stimme …«
Ab und zu hatte Vera eine ihrer Augenbrauen gehoben. Die meiste Zeit aber schien sie ungerührt. Sein Gespür sagte ihm, dass ab jetzt ein eiskalter Wind gegen ihn weht. Er hatte recht. Er hatte nur nicht bedacht: Rache steht im Lexikon vor Vergeltung.
Tage später war seine Laune wieder gut. Im Sekretariat, wo er bei der stets freundlichen Frau Bläsing war, kam ein Ehepaar zur Tür herein und stellte eine ungenaue Frage:
»Haben Sie hier einen Schulpsychologen? «
Er wusste es inzwischen, aber er musste nicht antworten. »Eigentlich … nicht direkt«, antwortete Frau Bläsing lächelnd.
»Was heißt: nicht direkt? «
»Die zuständige Schulpsychologin arbeitet für mehrere Schulen. «
»Gibt es Sprechzeiten für die Dame? «, fragte der Mann brummig.
»Sicher. «
Solange Frau Bläsing die Unterlagen suchte, war er damit beschäftigt, erste Infoblätter für das Experiment nach Themen zu sortieren. Eines davon schwebte zu Boden. Erstaunlich, dass der Mann, dessen Statur eher behäbig war, sich danach bückte. Der Mann ließ den Zettel nicht los, starrte verwundert darauf.
»Sie sind das? Und Sie haben das in der Tat vor? «, platzten die Worte des Mannes gegen seine Stirn. Anstatt es zurückzureichen, hielt der Mann das Blatt triumphierend auf seine Frau gerichtet. Irgendeine Eingebung hatte ihm die Bosheit ins Gesicht geschrieben:
»Wir schicken unsere Kinder nicht von ungefähr auf ein Gymnasium. Wir haben geglaubt, hier könnten wir sie guten Gewissens lassen. Und jetzt das! « Die Zornesröte sprang vom Gesicht des Vaters auf die Mutter über. Ihr fehlte offenbar der nötige Sauerstoff, um in das Gezeter ihres Mannes einzufallen.
Er musste sich wehren: »Bisher war nichts, was ich kenne, auf Dauer erfolgversprechend. Es zeigt sich doch ganz offensichtlich, dass Verbote im Umgang mit Alkohol bei Jugendlichen keine Wirkung haben. Wenn überhaupt, dann verlagern sie das Problem eher, als dass sie es lösen. «
Er spürte die Euphorie aufkeimen und rief sich zur Ruhe. »Kinder sammeln ihre Erfahrungen im ganz normalen Leben. Von meinen Schülern sagen siebzig Prozent, sie hätten bei ihrer Jugendweihe das erste Mal richtig einen sitzen gehabt ... «
»Jugendweihe«, brodelte es aus dem Mann. »Bei uns gibt es diese heidnische Verirrung nicht. Unser Pattrick hatte Konfirmation. «
Pattrick also. Pattrick Lörmann. Es wurde Zeit, dass die Eltern einmal kamen. Vorgestellt hatten sie sich nicht. Noch ehe er selbst seinen Namen nennen konnte, ging sein Temperament leider mit ihm durch:
»Auch bei einer Konfirmation fließt Alkohol.«
Ein bisschen spät vielleicht mischte die Frau sich ein: »Unser Pattrick trinkt nicht. Er raucht. Ja. Aber wenn alles um ihn herum raucht, wie soll er da …«
Der Fingerzeig auf ihren Mann war klar, aber der ließ nichts auf sich sitzen: »Quatsch nicht, Heike!«
Frau Lörmann hielt sich an das Verbot.
Später wusste er nicht mehr, warum er seine guten Manieren vergessen hatte. Anstatt sich jetzt den Eltern vorzustellen, musste er sich noch etwas von der Seele reden, ohne die Familie anzugreifen:
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