Klar, dass man bisweilen mit dem Finger auf die jungen Familien zeigt. Ganz unrecht hat niemand. Solange es normal ist, dass Eltern zum Abendessen täglich Bier oder Wein trinken, solange sie den Kindern das Gefühl geben, bei Frust muss man sich einen einschenken, solange ein volles Glas als Belohnung gilt, solange erkennt das Kind den Alkohol als Problemlöser an. Es gibt kaum eine Geselligkeit ohne Alkohol.
Trotzdem sind viele elterliche Sorgen auch seine. Das Komasaufen nimmt überhand. Es gibt keine Strategien. Nirgendwo. Es gibt kaum Wege der Kontrolle. Bingedrinking, Flatrate in der Disco, Tequila bis zum Exzess, und das beileibe nicht nur von Kindern aus sozial schwachem Umfeld.
Sein Experiment ist besser geeignet als tausend Verbote und hundert Gesetze. Warum also sollte er vor Vera klein beigeben.
»Falls dir da etwas entgangen ist«, versuchte er es noch einmal, wenn auch lakonisch. »Dieses Projekt ist eine anerkannte Prävention, entwickelt im Auftrag der Landesregierung. «
»Was hast du mit dem Ministerium zu schaffen?« Veras Frage blies eine Menge heiße Luft mit sich fort.
Noch heute gesteht er sich ein, selbst nicht genau zu wissen, warum er einen Stein im Brett bei Sellinger hat. Sellinger hatte zwei kluge Menschen beauftragt, das Projekt praxistauglich zu entwickeln. Ist Sellinger in der Klemme, weil die Umsetzung stagniert?
Immerhin war es Sellinger höchstpersönlich, der die Medien informiert hat. Das Fernsehen.
»Mein Projekt ist nicht schlechter als deines«, keifte Vera. »Ich bekomme diese Aufmerksamkeit nicht, weil keiner den Wert erkennt …«
Vera erging sich in der Schilderung diverser Vorteile ihres Sprachprojekts für Schule und Beruf, für Staat und Wirtschaft. Wenn er ehrlich ist, liegt Veras Projekt in der Tat auf ähnlicher Ebene. Die Jugendsprache - eine andere Art von Entgleisung.
Er grinste sie an und sagte beiläufig: »Shakespeare – voll geil. Die Klasse hat mir davon erzählt. «
Vera trank hastig einen Schluck. So musste sie zunächst keine Meinung haben. Doch ihr Wesen kam gar nicht umhin:
»Shakespeare! Als ob es nur um Shakespeare geht. «
Die Jugendsprache im Deutschunterricht zu analysieren war eine prima Sache. Es konnte nicht schaden, wenn die Schüler eine Reflexion davon bekamen, was ihre Sprache vom Hochdeutsch entfernte, auch wenn es an ihrer Schule nicht gar so drastisch war mit dem Jargon. Bisweilen, wenn man die Ohren spitzte, regierte auf der Straße sehr wohl das Abgleiten bis zur Fäkalsprache. Bisweilen vergriff auch er sich an den lässigen Worten der Jugend. Oder nachlässigen? Bislang erklärt kein Experte der Welt, ob die Jugend einen fälligen Sprachwandel anschiebt, oder den fatalen Untergang der zivilen Sprachkultur einläutet.
Inzwischen verstand er Veras Aufstand als Versuch, die ihr zustehende Beachtung einzufordern.
»Du willst dich profilieren«, zischte sie plötzlich, und aus ihren Augen funkelte etwas, was nicht zu seinen Plänen für diesen Abend passte.
»Bei deinem Ruf verständlich. « Sie zog die Mundwinkel nach unten und schob etwas über ihre Lippen, was nach schlechter Laune roch: »Aber wenn es zulasten der Schüler geht, werde ich einzuschreiten wissen. «
Er trank einen Schluck, setzte das Glas zurück auf den Tisch und versuchte, seine Lage nicht peinlich werden zu lassen.
»Zugegeben. Die Sache mit dem Alkohol und dem Jugendjargon liegt auf ähnlichem Level. Alkohol kann in seiner Wirkung für den Einzelnen bitterer werden. «
Er prostete ihr zu - ein verteufeltes Ritual, sein Gegenüber aufzufordern, es ihm gleich zu tun. Dabei fiel ihm ein, dass alles, was er über Vera wusste, auf einem Bierdeckel Platz finden würde, wenn er es aufschreiben müsste.
Dann beugte er sich eine Winzigkeit näher zu ihr.
»Wenn ich bedenke, wie wichtig es ist, richtig auszudrücken, was man meint …«
»Und? Was meinen der Herr Pädagoge? «
Vera blieb trotz seiner Zote kalt und unnahbar und ihm schwante, dass er sich in etwas verrannt hatte. Also blieb er sachlich.
»Die Verführung schlecht hin. Wie kann man Schüler dazu bringen, den Straßen-Trends zu widerstehen? Man muss sich ernsthaft Gedanken machen. Etwa fünfzehn Prozent kommen mit den Anforderungen nicht zurecht. Kein Wunder also, dass sie …«
»Wir haben Wahlfreiheit«, unterbrach sie ihn forsch. »Es gibt Schulen mit weniger Anforderungsprofil.« Vera spitzte ihren Mund und fixierte ihn, feindselig, immer hellwach, immer auf dem Sprung, ihm erneut ins Wort zu fallen.
Er lehnte sich weit zurück: »Die Erwartungen der Gesellschaft sind hoch. Die der Eltern inbegriffen. Ich denke sogar, unter Gleichaltrigen haben sie noch schlechtere Argumente gegen ihr Versagen. Sie finden keinen Schuldigen außer sich selbst, wenn sie nicht mithalten können. Der Druck nimmt zu. « Er hob sein Glas und grinste ganz unpassend. »Um mal wieder runter zu kommen, ist Alkohol eine wunderbare Sache. Warum sollte die Jugend anders denken als wir? Prost! «
Gute Freunde hätten seine Art Selbstironie erkannt. Vera nicht. Ihre Lippen schoben sich vor, als schmollte sie. Für dieses kindliche Bild klangen ihre Worte ungewohnt barsch.
»Die Jugend muss lernen, sich an die Normen der Gesellschaft zu halten. «
Welche gesellschaftliche Norm der Alkohol einnahm, wollte er nicht erörtern, aber im Provozieren stand er ihr nicht nach: »„Hat die Schule dafür keinen Lehrauftrag? «
»Zum Alkoholtrinken ganz bestimmt nicht, für gute Sprache aber schon.«
Wer kannte diese Sätze nicht. Er winkte ab, eine Geste, die Vera durchaus missdeuten konnte.
»Dafür gibt es Gesetze …«, wehrte sie sich, weil er noch damit beschäftigt war, ein bisschen Genugtuung aus ihrer Empörung zu lecken.
»Verbote waren nie eine Lösung, sie verlagern das Problem nur«, sagte er, obwohl er wusste, dass kein einziges Wort noch dem Sinn des Abends genügte. »Wer aus eigener Unwissenheit sein Schlupfloch finden will, der findet es. Die Gesellschaft hat versagt. Und man weiß es, ist aber nicht willens, nach neuen Wegen zu suchen. «
»Aber du?«, herrschte Vera ihn an.
»Der Wille allein versetzt keine Berge. « So ruhig er sich gab, so unruhig scharrten seine Füße auf dem Boden unterm Tisch.
»Du willst mir doch nicht weismachen, selbst von der Sache überzeugt zu sein? « Jeder kannte Veras fragende Behauptungen und auch Sätze, wie der folgende, waren legendär: »Die meisten Menschen behaupten sich nicht, weil sie von etwas überzeugt sind, sondern weil sie behauptet haben, von etwas überzeugt zu sein. «
Er blieb ruhig. Das gab ihr wohl das Gefühl, er habe kein halbwegs vernünftiges Argument mehr. Ihre Stimme wurde umso beherrschender.
»Willst du noch mehr Porzellan zerschlagen? Merkst du eigentlich, wo du inzwischen stehst? Beim Kollegium wie bei den Eltern. «
Freilich wusste er längst, wie man gegen ihn schoss. In diesem Moment aber schien Vera zu spüren, wie untauglich ihre Angriffe waren.
»Wer gute Argumente hat …«, seine Stimme klang, als könnte ihn nichts auf der Welt aus der Ruhe bringen. »Der kann auch mal gegen den Strom schwimmen. Ich komme damit klar. «
Jeder im Kollegium wusste es, keiner sprach es aus. Vera Hensel war die Konsequenz in Person, selbstsicher und unantastbar. Nur bei der Obrigkeit schleimte sie ständig. Offenbar hatte sie ihn sofort verstanden.
»Kannst du eigentlich auch ein netter Mensch sein?«, fauchte sie mit selbstgerechter Stimme. Ihre Hand, die das Glas anhob, gab dem geschminkten, aber bebenden Mund Deckung.
In diesem Moment wurde sein Blick glasklar, dafür überwog der Selbstzweifel. Er hasste so dick geschminkte Lippen. Und er hätte sich schwer getan, sie auch nur flüchtig zu küssen. Mit einem Ruck überwand er das letzte bisschen Taktgefühl, das ihm anerzogen war. Vielleicht ein halbes Dezibel lauter als gewollt, vielleicht mit unkontrolliertem Zorn quoll es aus ihm heraus:
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