Wenn einer so besoffen daliegt ist es eigentlich schon zu spät, hat er damals gedacht. Zu den Schülern hat er gesagt:
»Möchte jemand von euch einmal dieses Bild abgeben? «
»Abgeben nicht. Angucken schon«, erheiterte Pattrick Lörmann die Runde.
Pattrick! Diesem Jungen hätte es gut getan, sich am Experiment zu beteiligen. Sein Absturz zur Klassenfahrt in Peenemünde war beinahe folgerichtig; diese Erfahrung hat sich in seinen Lehrerstolz geritzt. Leider hatten Pattricks Eltern keine Chance, ihren Fehler zu erkennen.
In ziemlicher Dunkelheit beugt sich Jan zu dem leblosen Etwas. Die Kotze stinkt nach süßem Fusel. Im Halbdunkel das entstellte Gesicht von Nina Joswig.
Lange kann er keinen vernünftigen Gedanken fassen. Nur eines geht ihm durch den Kopf. Wie konnte er sich in Nina so irren?
Was da vor ihm liegt ist der vollgekotzte Beweis: Nina Joswig hat ihm die ganze Zeit etwas vorgemacht. Was jetzt vor ihm liegt, ist Teufelswerk. Hatte es nicht viele deiner Kollegen genauso prophezeit?
Wer sich auf Teufel komm raus betrinken will, der wird es nach diesem Experiment erst recht tun ...
Trotz Nebel im Kopf wird ihm klar, was Sellinger meinte. Der Weg des Mutes kennt zwei Ziele: Thron oder Schafott.
Was blieb ihm übrig, als den steinigen Weg zu gehen, der die Schüler selbst erfahren lässt was passiert, wenn man Alkohol trinkt. Die wenigsten hatten eine Ahnung, welch Teufelszeug in ihren Drinks steckt.
Die kühle Nachtluft streicht um seine Stirn, macht ihn munterer. Mit einem Male ist er stocknüchtern: Wenn Ninas Absturz bekannt wird, kommt genau der Ärger auf ihn zu, auf den Vera Hensel spekuliert; Vera mit ihrem Unfehlbarkeitssyndrom.
Wenn es zwei Frauen gibt, die den größtmöglichen Abstand halten sollten, dann Karim und Vera. Zu spät. Karim ist für ihn wieder unerreichbar. Sie gibt ihm dieses Gefühl. Und er hat entschieden, ihren Willen vorerst zu respektieren.
Er muss jetzt alles klug arrangieren: Hilfe für Nina anzufordern bedeutet, die Soko Suff auf den Plan zu rufen. Das ruiniert sein Ansehen endgültig. Lässt er Nina einfach ihren Rausch ausschlafen, bleibt immer noch Zeit für Erziehung … Ab Montag. Aber die Nächte sind empfindlich kalt, und Nina könnte noch einmal erbrechen und an ihrem Erbrochenen ersticken …
Der Park ist dunkel und ruhig. Kein Kneipenlärm. Kein Disco-Licht. Kein übermütiges Lachen. Nichts. Ist dieses Stück Welt nicht friedlich und still?
Vielleicht hätte er auch heute so gedacht, wäre nicht Karim eines Tages so aufgebracht gewesen. Ein Vorfall wurde im Kollegium kaum zur Kenntnis genommen. Man hatte in diesem Park zwei junge Asiaten übel zusammengeschlagen.
Jan drückt mit der Rückhand an die Halsader des Mädchens. Irgendwie aus Gewohnheit. Vielleicht aus Selbstbetrug. Freilich lebt sie, aber ansprechbar ist sie nicht. Er weiß nicht, wo Nina wohnt. Sie geht in die Neun A.
Ein Lufthauch lässt die Blätter über den Köpfen zittern. Sonst bleibt alles still, eine Stille, die mutlos macht.
Soviel Jan auch nachdenkt, er kann das Bild nicht ausstehen, auch wenn die Dunkelheit es verklärt. Aus dieser Dunkelheit löst sich seine Stimme, die Ninas Vater zu überzeugen versucht hat, seinem Trinkexperiment zuzustimmen:
Nun Herr Joswig, ich kann nur hoffen, dass man Sie niemals in die Rettungsstelle bittet, wo Ihre Tochter liegt. Vielleicht mit bleibenden Schäden. Vielleicht erfroren oder unterkühlt. Vielleicht in ihrem hilflosen Zustand von gewissenlosen Männern missbraucht …
Am hellen Sonntag erwacht ein Mädchen im Klinikum in einem fremden Hemd, beäugt von fremden Gesichtern. Es hat nicht geschlafen. Es war nicht ohnmächtig. Es war zu. Völlig zu. Das wird ihm jetzt klar, und ihm dämmert es auch, warum sich das Innere nach außen kehren möchte. Alles kann sich nach außen kehren, nur nicht die Seele.
Die behält es bedeckt. Die geht keinen etwas an.
Dem Mädchen ist kotzelend. Eine Krankenschwester steht neben dem Bett. Das herbe Gesicht spiegelt weder Sorge noch Strenge. Abscheu vielleicht. Oder Kälte?
Die Frau fragt etwas, doch das Mädchen antwortet nicht. Es schließt die Augen und dreht sich zur Wand.
Schwester Beate muss gar nicht fragen. Sie weiß alles über das halbe Kind, das jetzt weniger erbärmlich aussieht als noch in der Nacht.
Nina Joswig. Noch nicht einmal sechzehn Jahre alt. Schülerin am Heine-Gymnasium.
Da draußen im Gang saß die halbe Nacht ein Kerl, der nicht eher gehen wollte, bis er erfahren hat, wie es um sie steht.
Erst als die Mutter des Mädchens kam, war er zu bewegen.
Hilflos stand die Frau herum, rang mit den Händen und wusste nicht, was man von ihr erwartete. Entgiftung. Das traf sie schwer. Schwerer noch trafen Mutters Tränen das blassblaue Kind.
»Dass du uns so etwas antust! Was sag ich bloß Papa. Nun siehst du es selber. Er hatte doch recht mit dem Experiment…« Sie zog ein Zellstoff aus der Tasche und wischte ziellos in ihrem Gesicht herum, »…ist der Teufel erst geweckt …!«
Das Mädchen weint seitdem und redet noch immer nicht.
»Es musste so kommen«, hat die Frau gesagt und ist von einem Bein auf das andere getreten, wie die Irren auf den Gängen der Anstalt.
Nichts muss so kommen, denkt Beate und spricht gedämpft auf Nina ein. Der schmale Körper hebt und senkt sich, aber er gibt keinen Laut frei.
Beate kennt andere Typen, die es den Schwestern schwer machen, sobald sie wieder ein bisschen Orientierung spüren. Manche werden aggressiv und randalieren herum. Einmal kam ein Dreizehnjähriger mit zwei Promille im Blut. Aber er stand senkrecht – nicht sicher, aber doch auf eigenen Füßen. Ein Dreizehnjähriger!
Andere kommen in fast komatösem Zustand, wo alle Schutzreflexe fehlen, wo die Atmung gefährlich langsam geht, bisweilen aussetzt. Die meisten sind unterkühlt, wie dieses Mädchen auch. Es brauchte eine Infusion; der Blutzucker war drastisch abgesunken. Und es brauchte neben der Windel, in die es sich komplett entleert hat, auch sehr viel Flüssigkeit.
Der Mann sagte, das Mädchen habe sich schon im Park übergeben. Komplett, wie es ihm schien.
Dieses Mädchen randaliert nicht, es keift nicht und lässt auch sonst alles geschehen. Dieses halbe Kind spürt eine Scham in sich, die nichts anderes erträgt als die weiße Wand neben ihrem Bett.
Besuch wäre Gift. Kein Besuch ist es auch. Die Mutter hatte verstanden, dass ihre Worte nicht hilfreich waren. Der Vater sei gottlob nicht in der Stadt. Der würde nicht lange fackeln , sagte die Mutter.
Seit einer Stunde sitzt schon wieder dieser Kerl draußen im Gang. Er gibt vor, Nina gefunden zu haben und endlich Auskunft zu erwarten.
Sie hat es sich nicht so schwer vorgestellt: Liebe. Aber sie hätte es wissen können. Sie ist kein Kind mehr. Sie weiß, was Liebe ist.
Sie hat nur keine Erfahrung, wie es ist mit dem Nachgeben … mit der Bewunderung … mit dem Vertrauen?
Durch ihr müdes Bewusstsein zieht die Stimme ihrer Mutter: »Wir helfen dir, aber du musst es wollen. « Vorher hatte Vater gepredigt: »Du bist jetzt selbst dafür verantwortlich, was du tust. «
Also hätte sie sich anders entscheiden müssen? Anders heißt gegen Pattrick und das wiederum bedeutet, sich für einen Verlust zu entscheiden.
Über eine solche Geschichte hatten sie im Deutschunterricht mit Frau Hensel geredet. Aber hier und jetzt geht es nicht um eine Romanfigur, hier geht es um sie und ihre Liebe.
Als Pattrick im neuen Schuljahr an diese Schule kam, war er ihr sofort aufgefallen. Jeder bewunderte ihn. Wenn sie mit dem Fahrrad zur Skatbahn fuhr, stand er schon da - sein Sturzhelm auf die Sitzbank gebunden, dunkle Brille und Gel im Haar. Mit Augen zu Schlitzen verengt, schickte er weiße Kringel aus Zigarettenqualm in die Luft und grinste so süß, dass die Haut an ihren Armen fror.
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