»Irre ich mich? Ich denke, hier ist jetzt meine Unterrichtsstunde. «
»Ganz richtig«, funkelte Vera Hensel ihn an. »Darf ich dir Frau Rohloff vorstellen. Sie ist Schulpsychologin und möchte gerne einmal deinen Unterricht miterleben. «
»Unangemeldet? «
Die Blicke der fremden Frau huschten zu Vera Hensel. »Da bin ich jetzt etwas … wäre eine Anmeldung nötig gewesen? «
»Das kommt auf den Sinn der Sache an«, erwiderte er. Wenn Sie sich ruhig verhalten, dürfen Sie gerne hospitieren. Ich habe eine Klassenarbeit vorschriftsmäßig angemeldet. «
Die Frau zog die Schultern an: »Das war in der Tat nicht meine Absicht. «
Er grinste bei dem Auf und Ab in den Worten, was die Frau zu einer Erklärung animierte.
»Frau Hensel hat mir von … von Ihrer Umgangsform berichtet. Ich denke, gewisse Methoden darf man durchaus hinterfragen. «
Hinterfragen? Klingt wie hinter die Kulissen schauen .
Er vollführte eine knappe Geste mit der Hand in Richtung Tür, lächelte seine aufkeimende Wut hinunter und grinste am verblüfften Gesicht von Vera Hensel vorbei:
»Hinterfragen Sie. Bitte. Ich habe kein Problem mit unverhofftem Damenbesuch. Aber ich ändere meinen Plan nicht. Die Kurzarbeit dauert so an die zwanzig, fünfundzwanzig Minuten. «
Das war vermutlich ungalant, aber in diesem Moment war ihm klar: Vera versuchte mit allen Mitteln, ihn bloßzustellen. Vielleicht wollte sie beweisen, dass aus ihrem Projekt Jugendsprache nichts werden konnte, wenn es Lehrer wie ihn gab, die nicht konsequent gegen Sprachverfehlungen intervenierten. Warum hätte er mit Vera darüber reden sollen. Niemand interveniert erfolgreich gegen den Jugendjargon. In der ganzen Gesellschaft nicht. Im Gegenteil. Es gibt schon eine Industrie, die davon profitiert. Ganze Lexika der Jugendsprache werden erstellt. Man kann sich seinen Reim darauf machen: Ausdruck des Wandels der Sprache? Oder Beweis der Wendigkeit der Verlagsindustrie?
Hol ΄s der Teufel.
Seine lockere Umgangsform mit den oberen Klassen ist nichts für Veras Verständnis von Respekt vor dem Lehrer, und er ahnt, wie stierernst sie seine Worte genommen hat. Vera Hensel - der nichts über ein ausgefeiltes, gestochenes Hochdeutsch geht - mussten cool Sprüche und heiße Kopfnüsse nach Verfehlung klingen. Er hat aufgehört, sich über die Ausdrucksform der Schüler aufzuregen. Er erwartet auch nicht, dass sie ihm zuliebe gekünstelt sprechen. In seinen Stunden geben sie sich immerhin Mühe. Bis jetzt. Das ist ihre Art von Respekt.
An diesem Tag hatte sich ein falscher Ton bei der Klasse eingeschlichen. Es musste etwas passiert sein, was er nicht durchschaute. Von Mühe keine Spur. Die Schüler wollten gar nicht reden, solange diese prickelnde Spannung im Raum stand. Sie hatten sensible Antenne und spürten, dass zwischen ihm und Vera Hensel etwas nicht stimmte.
Vielleicht lief der Film ganz automatisch ab? Wenn man stereotype Bilder sieht, beginnt stereotypes Verhalten. Waren sie bei Vera Hensel vielleicht bewusst aufsässig? Besonders in sprachlicher Hinsicht?
Er verteilte zwei Arbeitsblätter, auf denen die Aufgaben standen. Zuerst eine einfache mit einer grafischen Abbildung - zum Aufwärmen:
In einem Spalt der Breite d=12 cm sitzt eine Kugel mit dem Radius r = 7 cm fest. Wie tief steckt die Kugel im Spalt?
Mit geneigten Köpfen saßen sie da, lustlos, beinahe feindselig.
Was er an jedem anderen Tag tat, musste er heute lassen. Er warf keine Kreide zwischen zwei über die Bank Lümmelnden. Er verteilte keine Kopfnuss, wenn einer partout nicht nachdenken wollte. Er gab nur vorsichtige Signale und er hoffte, dass sie seine Lage begriffen.
Wie stets hatte er Ersatzaufgaben in der Tasche. Flexibilität war seine Art, das Ruder zu drehen, wenn das Schiff zu schaukeln begann. Aber zwei der Textaufgaben reizten ihn, gerade wegen der hospitierenden Frauen. Er entschied sich für eine davon und damit kam etwas Erheiterung in die Gemüter.
Eine Firma versendet 90-prozentigen Alkohol. Beim Transport eines 140 Liter-Fasses wurde unterwegs Alkohol entnommen und durch Wasser ersetzt. Bei der Ankunft enthielt das Fass nur noch 75 Prozent Alkohol. Wie viel Alkohol wurde unterwegs abgezapft?
Es gab wie immer ein Drittel, die sofort loslegten, und es gab stets das andere Drittel, dem es wie den beiden Frauen auf der hinteren Bank ging. Der Rest versuchte auf seine Weise, zu einem Aha-Effekt zu kommen. Ihre Methoden gingen ihn nichts an. Allein das Ergebnis zählte.
»Mein Laufwerk spinnt grade, Herr Stein. Ich schnall das nicht«, raunte ein Junge in der letzten Bank. Er saß ganz hinten, weil er ein bulliger Typ war, groß und kräftig zugleich. Kaum zu glauben, dass er zu den Neunern gehörte. Das Mädchen neben ihm stieß ihm ihren Ellenbogen in die Seite und schob das eigene Arbeitsblatt weiter zur Mitte hin.
Wie zufällig lief er um die Bank herum, zog wortlos das Blatt des Mädchens wieder zurück und stellten sich hinter den Jungen:
»Dein Laufwerk spinnt in letzter Zeit oft. Das ist Stoff der letzten Wochen. Was hättest du den lieber? «
Gegen das Raunen und Füßescharren hob der Junge seine Stimme:
» Ich wäre lieber dabei gewesen, als die das Fass …«
»Mir scheint, du warst dabei. Sonst hättest du längst den läppischen Dreisatz aufgestellt. Dreisatz und indirekte Proportionalität haben wir bis zum Erbrechen geübt. Also hoppeldipoppel.«
Ein Grinsen ging durch die Reihen. Es gab diejenigen, die seinen Wink sofort kapierten und endlich loslegten. Und es gab die anderen, die viel lieber sein unkorrektes Wort berichtigten: »Hoppeldihopp«. So sagen sie wohl, wenn sie unter sich sind.
Vera Hensel und diese Erika Rohloff redeten leise miteinander. Anlass für noch einen kleinen Tipp:
»Wer nicht gerne nachdenkt, sollte wenigstens von Zeit zu Zeit seine Spickzettel sortieren. Nur Idioten müssen Ordnung halten. Letzteres hat wer gesagt? «
»Einstein«, kam wie aus einem Munde.
»Bingo. «
Keine Frage. Er weiß natürlich, dass Spickzettel längst out sind. Auf und unter den Tischen haben längst Smartphons Einzug in den Schulalltag gehalten.
Ohne zur hinteren Bank zu blicken, roch er förmlich, wie Vera Hensel den letzten Sauerstoff verschluckte, den der Raum noch hergab. Die Psychologin registrierte die nebengelagerte Entrüstung, blieb aber weiterhin teilnahmslos.
»Ohne Gehirnprothese ist Mathe die Folter«, maulte Torben Meyer, den sie wegen seiner Igelstoppeln Kaktus nannten und der das lieber hörte als seinen Vornamen. Verständlich. Torben raufte sich die ganze Zeit die Haare, aus Gewohnheit. Sogar im Sportunterricht kurz vor dem Anlauf zum Pferdsprung hatte er die Geste bei dem Jungen schon bemerkt, der stets eine Klage folgte. Auch in diesem Moment: »Wer soll aus dem Wirrwarr schlau werden? «
»Raff dich! « Rüde checkte ihn der Ellenboden seines Nachbarn, der zweifellos zum ersten Drittel seiner heimlichen Klassifikation gehörte. Und obendrein bekam Kaktus die einzige sanfte Kopfnuss der Stunde, die er mit markigen Worten garnierte. »Weisheit ist nicht das Ergebnis der Schulbildung, sondern des lebenslangen Versuches, sie zu erwerben. Das hat auch Einstein gesagt. «
»Ohne Scheiß? «, murmelte Torben. »Ich meine, das von der Ordnung auch?«
»Express-Checker. Man. Nur das Genie beherrscht das Chaos! Schon vergessen? «
»Schluss jetzt. Rüben anstrengen und los! «
»Einstein. Der war echt beleuchtet« , kicherte Torbens Nachbar, der sich noch nicht mit seiner Lage zufrieden geben wollte.
»Intelligent meinst du?« Sein Grinsen galt der hinteren Bank.
»Klaro. «
»Auch Einstein hatte seine Probleme, wenn er zu seinem Sohn sagte: Mach dir keine Sorgen wegen deiner Probleme in Mathematik. Ich kann dir versichern, dass meine viel größer sind. Und wenn Einstein das sagt, dann waren sie größer …«
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