Man sah ihn jetzt stiller, bedachter, als je zuvor. Bei der Beurteilung seiner Lage, ohne einen geliebten Menschen an seiner Seite zu leben, lag die Betonung auf geliebt. Vera hätte er nie lieben können.
Seit einer Stunde rückten Vera Hensel und all die lamentierenden Kollegen ins Abseits. Dieser Mensch von der Suchtberatung machte ihn wütend. Nicht, weil er als Vertrauensperson nicht zur Verfügung stand. Er hatte kein logisches Argument. »Mit Kindern Alkohol trinken? Nicht mit uns. Wir sind abstinenzorientiert und wir werden geeignete Maßnahmen ergreifen, falls Sie doch ... «
Er stieß mit heftiger Drehung einen Kiesel vom Plattenweg hinüber auf den Rasen. Eine wirklich gute Idee erkennt man daran, dass ihre Verwirklichung von vornherein ausgeschlossen wird. Mein lieber Einstein, du warst ein sehr cleverer Mann.
Dieser Suchtberater meinte, die Jugend habe genug Möglichkeiten, Alkohol zu probieren. Und er war perplex über seine Frage, ob er einen Führerschein besitze.
»Selbstverständlich«, hatte sich der entrüstet. Auch posierte er wie ein unreifer Emporkömmling vor ihm, was ihn veranlasste, nach einem passendem Attribut zu suchen: Schnösel traf weniger. Pinkel! Ein feiner Pinkel.
Das Feine bestand ausschließlich darin, dass er sich bei jedem Wort beinahe die Zunge brach und dass er ihn, einen gleichaltrigen Mann, siezte. Sein Kontern half bei diesem Pinkel wenig: »Die Jugendlichen hätten auch genug Möglichkeiten, sich die Fahrpraxis selbst anzueignen. Warum lässt niemand einen Siebzehnjährigen ohne Training auf die Gefahren der Straße los? Um nichts anderes geht es bei diesem Experiment. Die Schüler probieren unter fachlicher Kontrolle, welche Gefahr Alkohol mit sich bringt. «
Logik stand dem Pinkel nicht. Er hatte seinen Text gelernt und lehnte jegliche Rollenkorrektur ab.
Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Die fliehende Stirn mit der aufstrebenden Tolle, das spitze Kinn …? Das Bild eines Spitzmaul-Nashorns kam und wollte nicht mehr verblassen.
Warum kann einer von der Suchtberatung nur in seinen Maßstäben denken? Warum konnte der geistige Vater – der eine Suchtklinik leitet – Ursache von Wirkung unterscheiden?
Als er weiterlief, fiel es ihm ein: Es war im Steintal beim Bowling. Zwei Bahnen weiter kämpfte eine Gruppe verbissen um Punkte und Sieg. Der Spitzmaulnashörnige war unter ihnen. Und Vera Hensel, die sich sehr graziös gab und wohl deshalb nicht punkten konnte.
Die hübsche Germanistik-Dozentin von der Hochschule fiel ihm ein. Der freie Journalist, dessen Namen ihm entfallen war und den sie an diesem Abend Jerry nannten, wie die flinke Maus, die den Kater Tom foppte. Und die Rohloff war auch dabei. Deren Hospitation war also kein Zufall.
Es konnte sein, der Verein zur Rettung der deutschen Sprache hat sich einen netten Abend gemacht. Wie hätte Vera da abseits stehen können? Aber was kann einer von der Suchtberatung in einem solchen Verein wollen? Zu Vera passte der Kerl gut, keine Frage. An den Nährboden für eine kleine Intrige zu denken, gestattete er sich nicht.
Ob es verfrüht war, das Trinkexperiment durchzuziehen, darüber ließ
sich trefflich spekulieren. Ob es der richtige Weg war, ebenso. Trampelpfade gab es genug.
Wen hatte er also, auf den er noch zählen konnte? Jemand aus dem Kollegium wäre schließlich auch möglich. Seine kleine Vorahnung schob er beiseite. Er hätte Waltraud Geyer strikt sagen sollen: Vera Hensel fällt wegen Befangenheit aus.
Logisch wäre Kurt Bergholz. In Chemie kam irgendwann der Alkohol im Lehrplan vor. Aber gerade Bergholz wetterte aufgebracht frömmelnd gegen das Projekt. Die neue Bio-Chemie-Referendarin kam ihm in den Sinn: Zu unerfahren. Wie stand es im Programm: Die durchführenden Lehrkräfte müssen sicher im Umgang mit Jugendlichen und Gruppendynamik sein. Kompetent in Sachen Alkohol und verhaltenstherapeutischer Gesprächsführung.
Warum eigentlich nicht? Nicht weil sie jung war. Nicht weil sie schön war. Er hatte die Jungen noch nie über Karim Üljaz lästern gehört. Kein schlechtes Zeichen. Solange die Jungen nicht lästern, bleiben die Mädchen auch fair.
Seit er sich systematisch an der Motivationslage der Schüler orientierte, kam die Üljaz durchaus infrage. Für den Moment war sie die interessanteste Erscheinung in der Schule, und dieser kleine Hieb gegen Vera kam gerade recht. Aber konnte die Üljaz das?
Er wusste nicht, wie alt sie war, zum Glück konnte er rechnen. Jünger als Vera und ein ganz anderer Typ … Rassig, im wahrsten Sinne des Wortes. Sonniger Teint. Große schwarze Augen unter langem, dichtem Strähnchenhaar. Volle Lippen und schmale Hände. Alles gleichsam anmutig wie fremd.
Er grinste in sich hinein. In diesen Belangen zählte kein Alter. Ein wenig freien Mutes und sehr viel Engagement – sonst nichts. Wie sagte Einstein? Die reinste Form des Wahnsinns ist, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich was ändert.
Am Mittwoch im Speisesaal sah er sie am Lehrertisch sitzen. Sie fiel immer auf mit ihrem Haar – orange mit dunkelbraunen derben Strähnen. Sehr natürlich. Und sie trug Schmuck aus Naturstein, aus Holz und rauem Leder, wie ihn kaum eine Frau hier trug. Im Vergleich zu Vera Hensel, die täglich in einer anderen auffälligen Klamotte erschien, war die ÜLjaz wohltuend schlicht. Vielleicht sitzt sie deshalb allein am Tisch?
Für zwei Sekunden war er wie gehemmt. Frauen spüren männliche Signale sofort. Momentan lagen seine auf einer völlig anderen Ebene.
Weil er sie anstarrte, senkte sie die Augen, drehte ihren Kopf zur Seite und vertiefte sich in das Ritual bedächtigen Speisens.
Es waren noch viele Tische frei. Er steuerte geradewegs auf sie zu, legte die Mappe, die er unter den Arm geklemmt hielt, auf den Tisch und lächelte sie an.
»Ich darf doch? «
Dasselbe ausweichende Lächeln. »Bitte«, sagte sie, und er war hingerissen von ihrer Stimme, von ihrem Akzent, den sie spielerisch einsetzte und doch nicht ahnte, wie sie damit andere Menschen in ihren Bann zog. Mit festem Blick auf die Frau nahm er sein Glas, als prostete er ihr zu. Ihres war noch gefüllt mit Sauerkirschsaft, der wie Wein funkelte: »Trinkt man in Ihrem Alter schon Alkohol?« Sein linkes Auge zuckte dabei, was jede andere belustigt hätte. Die Üljaz warf ihren Konter zurück:
»Trinkt man in Ihrem Alter noch immer Alkohol?« Nur ihre Stimme klang nicht angriffslustig, eher atemlos.
Das war schlagfertig, dachte er. Ungeachtet davon traf es ihn irgendwie. Er war schließlich keine zehn Jahre älter als sie. Vielleicht sechs oder sieben?
»Ist das Ihr Problem?« Sein Grinsen misslang.
»Meines oder Ihres? Jedes Problem kennt zwei Seiten. Die falsche und die eigene. «
»Das trifft sich. Ich suche gerade die eigene Lösung, weil die falsche mal wieder gescheitert ist. «
»Hätte ich anderes erwarten dürfen?« Sie konnte lachen, dass man verstehen musste, wie sie es meinte.
»In welcher Klasse behandelt man Alkohol?«, fragte er frei heraus. Nicht ganz so frei zog ein rosiger Schimmer über ihre Wangen.
»In der …« Sie stockte, fügte aber sehr rasch nach, dass es in der neunten Klasse behandelt werde. Aus ihren Worten hörte er zum ersten Mal eine kleine Unsicherheit heraus. »Warum interessiert Sie das? « Sie hatte den Teller bereits zur Seite geschoben, aber sie blieb sitzen. Für einen Moment zögerte er. Dann siegte der Übermut.
»Weil ich Sie brauche.« Zugegeben, es kam etwas zu direkt. Welche Wahl hatte eine Referendarin, wenn sie gebraucht wurde? Sie schien den Atem anzuhalten. Eine trügerische Stille erfüllte den großen Raum. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie beinahe allein zurückgeblieben waren. Nur vom Tresen her kamen die üblichen Geräusche, die das Hin- und Herschieben der Teller verursachten.
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