Plötzlich klingelte eins der Telefone auf Opal Alphas Schreibtisch. Anstatt den Hörer abzunehmen, stellte sie den Anruf einfach auf das Telefon von Miss Maytree um.
-„Nun aber wieder zur Sache. Warum ich Sie eigentlich in mein Büro gebeten habe: das Trainingszentrum in Sydney.“ Ihre Augen blickten auf einen Bildschirm, der die Aufnahmen einer Kamera zwanzig Meter über ihnen zeigte. Ein paar Radfahrer fuhren am Eingang des Handelskammergebäudes vorbei. „Also, der ESS hat in Sydney ein Trainingszentrum für Agenten. Dort können Sie an verschiedenen Simulatoren so gut wie alles üben. Es ist möglich Ihre Reaktionsschnelligkeit zu verbessern, die Belastbarkeit zu testen und eine gute Orientierung, verbunden mit einem schnellen Erfassen von Situationen zu erlernen. Opal Gamma wird Ihnen das schon noch genauer erklären. Fragen Sie mich nicht, warum dieses Trainingszentrum in Sydney gebaut wurde. Das war seine Idee. Er liebt diese Stadt und ich hab ihm die Entscheidung überlassen.“ Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Sie werden heute Abend um sieben von Kloten aus nach Sydney fliegen. Wegen der Zeitverschiebung wird Sie Opal Gamma morgen Mittag um zwei am Flughafen in Sydney abholen.“
Opal Alpha ging langsam zu einem Kleiderständer und nahm ihren Mantel vom Haken.
-„So, das war’s schon. Sie haben dann jetzt noch Zeit zu packen. Ich spreche Sie wieder, wenn Sie in Sydney sind.“
-„In Ordnung“, antwortete Colin, während er zur Tür ging. „Sie können das mit der 3-Wochen-Klausel aus meiner Sicht übrigens streichen. Ich bleibe, wenn Sie mich nehmen. Und zwar uneingeschränkt.“ Opal Alpha schien überrascht. Aber sie sagte nichts, sondern lächelte nur. Gerade wollte Colin das Büro verlassen, da hielt ihn seine Chefin zurück.
-„Eins noch, Fox. Ich wollte mich noch entschuldigen, weil ich Ihnen Miss Maytree nicht vorgestellt und Sie eben so abrupt aus Ihrem kleinen Gespräch gerissen habe. Es sollte Sie nur vor einem großen Fehler bewahren.“ Sie blickte ihm fest in die Augen. Er konnte die Entschlossenheit in ihrem Blick erkennen. Diese Sache schien ihr sehr wichtig zu sein. Was meinte sie nur mit „einem großen Fehler“? Er schob diesen Gedanken beiseite, um nicht zu viel Zeit mit Überlegungen zu verschwenden. Opal Alpha deutete auf die Stahltür.
-„Sie können mit mir nach oben fahren. Dieser Aufzug ist ein wenig komfortabler als die Treppe.“
Colin nahm ihr Angebot dankend an und so standen sie beide kurze Zeit später in der Halle des Hauptquartiers. Colin verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zur Rheinbrücke. Er hatte nur noch wenig Zeit bis ihn das Taxi nach Kloten bringen würde, die musste er nutzen, um zu packen.
3
Ein tödlicher Lauschangriff
Der Flug war sehr entspannt verlaufen. Colin hatte die eine oder andere Störung erwartet, aber es passierte nichts. Das einzig Interessante war der Film, der während des Fluges gezeigt wurde: Casino Royal. Das erste Bond-Abenteuer. Sein erster Einsatz also. Ebenso wie bei Colin. Zwei Punkte waren natürlich schon anders: Bei Colin war es nicht klar, dass es ein Happy-End geben würde und zudem hatte er nicht die nötige Erfahrung im Gepäck. Eigentlich hatte Colin überhaupt keine Erfahrung auf diesem Gebiet. Auch wenn es eigentlich nicht um einen richtigen Einsatz sondern „nur“ um ein Training ging, wollte er sich um keinen Preis blamieren. So wirklich real wirkte das alles immer noch nicht. Es war zwar nicht das erste Mal, dass Colin eine weite Reise unternahm und auch nicht, dass er dabei etwas Wichtiges erledigen würde. Allerdings, worum es dabei ging, war etwas vollkommen Neues. Das Mysterium der Welt der Geheimdienste. Jeder Agententhriller war natürlich spannend, wenn man wusste, dass man nur über einem Buch oder im Kino saß. Und selbst die Schauspieler sehen die Drehzeit immer als einen großen Spaß an. Aber das hier war das echte Leben. Und Colin war gerade dabei, aus dem wohl behüteten Ausbildungsalltag in das gefährlichste Geschäft überhaupt umzusiedeln. Da war es gut, dass er bislang immer einen klaren Kopf bewahrt hatte.
Nun saß er also in einem Sessel in der Flughafenbar und wartete auf einen Mann mit der Bezeichnung Opal Gamma, den er bislang nur als „Ausrüster des ESS“ kannte. Colin war gespannt, was für ein Typ dieser Ausrüster war. Während er sich so seine Gedanken machte, bemerkte er neben sich zwei Männer, die hier am Kingsford Smith International Airport doch ziemlich exotisch wirkten. Der eine trug eine ovale Brille und hatte volles, angegrautes Haar. Er musste um die fünfzig Jahre alt sein. Seine Figur schien etwas außer Form geraten, denn er war klein und ziemlich breit. Allerdings konnte dies auch eine Täuschung sein, die sein dicker Mantel hervorrief, den der Mann selbst bei 30° C im Schatten trug. Der andere war etwa zehn Jahre jünger als sein Gegenüber und sein muskulöser Oberkörper unterschied ihn zusätzlich von dem Mann mit dem Mantel. Eine große schwarze Sonnenbrille verdeckte seine Augen und er fuhr sich immer wieder mit seiner massigen Hand über die Stirn um sich der Schweißperlen zu entledigen, die unentwegt von seinem Kopf herunter rannen. Im Gesicht hatte der Mann ein einzigartiges Erkennungsmerkmal. Eine große Narbe zierte seine rechte Wange. Sie verlief vom Ohr bis zur Nase. Die dröhnende Stimme des Mannes meldete sich mit osteuropäischem Akzent zu Wort. Colin konnte nicht genau erkennen, ob der Akzent russisch oder ukrainisch war. Aber aus dieser Gegend schien der Kerl zu stammen.
-„Und wie genau wollen Sie das anstellen?“, fragte er gerade.
Die Antwort des älteren Mannes kam mit starkem englischem Akzent. Er klang ein wenig wie ein englisches Schulmädchen.
-„Wir werden unsere Freunde an der 1st Avenue in New York unter Druck setzten. Die Ausführungen meines Cousins werden ihnen zu denken geben, da bin ich mir sicher. Meinen Sie nicht auch?“
Der große Osteuropäer bejahte abwesend, während er einen Mann zu beobachten schien, der an einem Tisch hinter ihnen saß und schon die ganze Zeit mit seinem Handy beschäftigt war. Er hielt es immer in Reichweite der beiden Männer, denen Colin nun seit wenigen Minuten zufällig zugehört hatte. Irgendetwas schienen die beiden vorzuhaben. Colin war nur nicht ganz klar, was. Wer waren ihre Freunde in New York? Man müsste mehr über diese beiden Männer herausfinden.
Der Mann mit dem Handy stand gerade auf und verließ die Bar. Colin sah ihm hinterher und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass der Mann mit der Narbe sich von seinem Gegenüber verabschiedete.
-„Ich fürchte, Sie müssen mich nun entschuldigen, Mister Brown.“
Brown. So hatte Colin zumindest einen Namen. Der Engländer nahm seinen Aktenkoffer und stand ebenfalls auf.
Nachdem der kleine Mann sich entfernt hatte, blickte Colin zu dem Tisch hinüber, an dem die beiden gesessen hatten. Neben dem Getränkekartenhalter und einem Aschenbecher lag ein altes, silbernes Zigarettenetui. Er ließ seinen Blick durch die Wartehalle wandern um den großen Osteuropäer zu finden. Dieser Mann war derjenige, der geraucht hatte, als er vor wenigen Augenblicken noch in der Flughafenbar gesessen hatte. Also musste ihm das Etui gehören. Colin erblickte die Zielperson in der Nähe der Toiletten. Ein paar Meter vor ihr öffnete der Mann mit dem Handy die große Tür der Toilettenräume.
Colin wusste nicht recht, warum er dem großen Osteuropäer folgte; war es wegen des vergessenen Zigarettenetuis oder war der wahre Grund, dass sein Verstand ihm riet diesem Mann zu folgen, um auch dessen Namen noch herauszubekommen? Er schlenderte unauffällig durch die Wartehalle, in Richtung der Toiletten, an deren Eingangstür sich nun auch seine Zielperson befand. Als sich der Mann vor den Toiletten noch einmal umdrehte, hob Colin die Hand, in der er das Zigarettenetui hielt, in die Höhe und rief laut „Entschuldigung, aber Sie haben Ihr Zigarettenetui vergessen.“ Der Osteuropäer ignorierte sein Bemühen allerdings und betrat die Toilette. Colin rannte zu der blauen Kunststofftür und drückte die Klinke hinunter. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Er zog fester an der Klinke, aber auch so blieb die Tür verschlossen. Aus dem Toilettenraum waren plötzlich gedämpfte Schreie zu hören. Colin schossen Bilder dessen Durch den Kopf, was sich darin gerade abspielen mochte. Hätte er eine Waffe griffbereit gehabt, er hätte das Schloss durchlöchert und wäre in die Toilette gestürmt. So aber blieb ihm nichts anderes übrig, als, so schnell er konnte, zur Flughafenpolizei zu laufen und ihnen seine Vermutung mitzuteilen.
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