Colin war froh, dass jetzt erst mal Ruhe einkehren würde, nachdem ihn die letzten Stunden doch reichlich beansprucht hatten. Nach den Strapazen der Fahrt und vor allem der Bewusstlosigkeit schrie sein Körper nun nach einer Ruhepause. Und es sollte nicht das letzte Mal bleiben in den nächsten Wochen.
Der European Secret Service schien auf seine Ankunft bestens vorbereitet gewesen zu sein und es verwunderte ihn auch nicht, dass sein Gepäck bereits hier war. Nur: Was hätten sie gemacht, wenn er nicht zugestimmt hätte? Alles sah wie ein harmloses Angebot aus, aber möglicherweise hatte er gar keine Wahl gehabt. Er schob diesen Gedanken beiseite, da er nur unzählige andere Fragen aufwarf. Er war zufrieden mit dem, was ihn demnächst als Trainings-Agent so alles erwarten würde.
-„Morgen um acht Uhr erwarte ich Sie dann wieder hier.“ Die Stimme seiner neuen Vorgesetzten klang überaus freundlich. „Leben Sie sich jetzt erst mal gut ein und genießen Sie das wunderbare Wetter am See.“
-„Wie spät ist es denn jetzt?“
Der Mann, der ihn hergefahren hatte, stand plötzlich in der Tür und sah nun auf seine Uhr. Es musste eine Omega sein.
-„Halb neun“, antwortete der Mann kurz. Es war das Erste, das er sagte, seit Colin ‚Bekanntschaft‘ mit ihm gemacht hatte.
Während Colin aus der geöffneten Schiebetür trat, begann der Mann bereits angeregt mit seiner Chefin zu sprechen. Colin drehte sich noch einmal kurz um und nickte Rebecca Lavoir zu. Sie lächelte und wandte sich wieder dem Fahrer zu.
Colin folgte Rebecca Lavoirs Wegbeschreibung und war blitzschnell vor dem Haus Nummer elf im Grüngang. Er betrat den Hausflur durch die geöffnete Tür, neben der ein Schild darauf hinwies, dass das Haus erst vor einer Woche fertiggestellt worden war und man doch bitte alle Anschlüsse kontrollieren solle und entschied sich, die Treppe anstelle des Aufzuges zu nehmen. Wenig später stand Colin in der Diele seiner Wohnung, sein Gepäck, wie von Rebecca Lavoir bereits angedeutet, zu seiner Rechten. Colin sank erschöpft in einen Sessel und warf seine Schuhe von sich. Er atmete tief durch und schloss die Augen. Eine wunderbare Aussicht war das. Drei Wochen bezahlter Urlaub. Das würde er genießen. Durch das halb geöffnete Fenster drang Musik ins Zimmer. Im Casino schien irgendetwas los zu sein. Colin entschied sich, seinen neuen „Nachbarn“ gleich noch einen Besuch abzustatten und vielleicht sogar an der einen oder anderen Pokerrunde teilzunehmen. Aber vorher würde er noch jemanden anrufen, den er bislang fast ganz vergessen hatte.
Nach einer kurzen Nacht wachte Colin am nächsten Morgen, noch bevor sein Wecker geklingelt hatte, mit den ersten Sonnenstrahlen in seinem Schlafzimmer auf. Nachdem er seine morgendlichen fünfzig Liegestütze absolviert hatte, ging er ins Bad. Er duschte, rasierte sich, kleidete sich an und betrat den Balkon. Der Blick auf die Reede und den Hafen von Konstanz war herrlich. Die Sonne spiegelte sich im Wasser und der zweite Katamaran aus Friedrichshafen an diesem Tag fuhr gerade an Imperia vorbei, der schönen Kurtisane aus Honoré de Balzacs Erzählung La belle Imperia , deren Statue seit 1993 die Hafeneinfahrt der Stadt ziert.
Während Colin die kühle Morgenluft genoss, erinnerte er sich an den letzten Abend. Das Brummen in seinem Kopf kam nicht von ungefähr; die zahlreichen Cocktails der vergangenen Nacht mussten schuld daran sein. Er wollte vergessen. Vergessen, was Lavinia ihm wenige Stunden zuvor am Telefon erzählt hatte. Vergessen, dass sie ihm unter anderen Umständen mit ihrer Aussage, sie wolle ihm unbedingt einen jungen Mann vorstellen, den sie in den letzten Tagen an der Universität kennengelernt hatte, sicher das Herz gebrochen hätte. Den Frust, den diese Nachricht mit sich gebracht hatte, hatte er in Alkohol ertränkt. Dass seine Interpretation von Lavinias Aussage möglicherweise gar nicht zutraf, kam ihm nicht in den Sinn. Stattdessen hatte er einen Entschluss gefasst: Er würde Rebecca Lavoir schon heute mitteilen, dass man ihm die 3-Wochen-Klausel aus seinem Vertrag streichen solle und dass er sich für die nächsten Jahre fest in den Dienst des European Secret Service stellen würde. Die Sache mit diesem Typen, der es Lavinia so offensichtlich angetan hatte, wollte er schnellstmöglich vergessen. Und zwar komplett.
Nachdem Colin sein bestes Jackett übergestreift und seine Wohnung in Richtung Seestraße verlassen hatte, schlenderte er gemächlich über die Uferpromenade zur alten Rheinbrücke, vorbei an einigen Anglern, die schon früh am Morgen ihre Angeln in den See geworfen hatten und vorbei an einigen Schnapsleichen, die die zahlreichen Bänke zwischen den Bäumen am See säumten. Innerhalb weniger Minuten erreichte er das Haus Nummer drei am Webersteig und nahm die wenigen Stufen zum Eingangsportal mit beherzten Schritten. Um fünf vor acht betrat er den Konferenzraum im Keller des Handels- und Handwerkskammergebäudes. Rebecca Lavoir erwartete ihn bereits.
-„Einen schönen guten Morgen wünsche ich. Wie ich sehe, sind Sie pünktlich – das freut mich. Unser Hauptquartier ist ja ganz gut zu erreichen. Auch wenn dieses Gebäude für uns nur eine Zwischenstation darstellt, da wir spätestens Ende des Jahres ein neues Hauptquartier bekommen werden. Welches Gebäude es sein wird, ist allerdings noch relativ unklar. Fakt ist nur, dass wir dieses schöne Haus hier räumen müssen, da die Handwerkskammer des Landkreises Konstanz nach ihrer einjährigen Umstrukturierungsphase ihren alten Sitz zurück möchte. Ich kann es verstehen.“ Colin wünschte seiner Chefin ebenfalls einen guten Morgen und ließ sie fortfahren: „Wir haben heute eine ganze Menge zu klären und zu besprechen. Also sollten wir keine Zeit verlieren. Zuerst einmal sollte ich Ihnen unsere Organisationsstruktur vielleicht ein wenig genauer erläutern. Ihnen ist sicher bereits aufgefallen, dass ich einen Opal an meinem Jackenrevers trage.“ Sie wies auf den Schmuckstein, der Colin bereits gestern aufgefallen war. „Dieser Opal symbolisiert die Zugehörigkeit zum Führungsstab des ESS. Außerdem finde ich ihn recht kleidsam, weshalb ich auch von Anfang an für diese Form der Kennung geworben habe. Um für jeden Mitarbeiter unserer Organisation eine Arbeitskennung festlegen zu können, sind also alle Führungskräfte Opal-Namensträger. Meine Kennung ist beispielsweise Opal Alpha. Alle Opal-Namensträger haben entsprechend ihrer Führungsposition besondere Zugangsrechte in unserem Netzwerk und darüber hinaus in unseren Stützpunkten, dem Hauptquartier und bei Einsätzen. Natürlich können Sie in unserem Agentenrangsystem ebenfalls aufsteigen. Es gibt drei Kategorien von Agenten, die wir ähnlich den Beratern in größeren Unternehmen aufgeteilt haben. Da sind zum einen die ranguntersten Agenten, zu denen auch Sie zählen. Sie sind Nummer5. Sollten Sie in unserer Hierarchie aufsteigen, so würde sich an Ihrer Nummer nichts ändern, lediglich Ihre Vorkennung wäre eine andere. Derzeit haben wir zwei leitende Agenten. Sie haben leitende Funktionen bei Einsätzen, müssen allerdings stets die Anweisungen des Operationsleiters befolgen. Außerdem besitzen sie die Erlaubnis zu töten, die allerdings nur inoffiziell existiert. Niemand darf wirklich andere Leute umbringen, ohne dass er dafür belangt wird. Es gibt allerdings innerhalb der UN gewisse Vereinbarungen. Wenn Sie in unserer Hierarchie aufsteigen sollten, werde ich Ihnen natürlich erklären, was es genau mit Ihrer neuen Bezeichnung auf sich hat. Im Grunde ist dieses System aber rein pro forma. Wirklich entscheidend ist Ihre Kennung nicht. Aber wer weiß, vielleicht ändert sich das ja doch irgendwann einmal. Ach ja, das hier ist Opal Omega, unser Operationsleiter und Leiter der Abteilung Omega, die sich vor allem mit der Netzanalyse und Informationsbeschaffung befasst. Bei operativen Einsätzen hat er zudem meist das Sagen.“ Sie wies auf einen mittelgroßen Mann in den Vierzigern, der gerade durch die Verbindungstür getreten war; er hob kurz die Hand und lächelte. „Er wird Ihnen jetzt das restliche anwesende Team des Hauptquartiers vorstellen. Vorab vielleicht noch so viel dazu: Ihnen werden auf der ganzen Welt Kontaktpersonen und andere Mitarbeiter unserer Organisation begegnen. Jeden können Sie gar nicht kennen lernen. Doch mit der Zeit werden Sie sicher mit dem einen oder anderen zusammenarbeiten. Also, Sie haben jetzt Zeit sich mit Ihren Kollegen im Hause bekannt zu machen. Ich erwarte Sie in einer Stunde in meinem Büro. Das war’s fürs Erste.“
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