-„Willkommen“, begrüßte sie ihn. „Freut mich, dass ich Sie jetzt hier bei uns begrüßen darf.“ Die Stimme der Frau klang freundlich. Colin wusste allerdings nicht, was er sagen sollte, denn der Grund und die Umstände dieser Zusammenkunft waren ihm noch vollkommen unklar. Eine einfache Entführung war dies jedoch in keinem Fall.
-„Ich merke schon, dass ich Ihnen eine Erklärung schulde. Aber dazu sollten wir uns setzen. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Diese Elektroschocker können ja doch eine gewisse Nachwirkung mit sich bringen, was die Konzentrationsfähigkeit angeht. Ein Muntermacher ist da sicher nicht schlecht.“ Colin bejahte die Frage und setzte sich in einen der Bürosessel. Auf dem Touchscreen vor ihm bewegte sich ein Bildschirmschoner in Form des UNO-Wappens. Als die Frau den Kaffee auf den Tisch gestellt und sich ebenfalls gesetzt hatte, begann sie aufs Neue:
-„Ich muss mich vor allem erst einmal für diese etwas rustikale ‚Einladung‘ entschuldigen. Wir wussten ja nicht, ob Sie einer formellen Einladung gefolgt wären.“
-„Eine Entführung ist ja nicht weniger formell“, bemerkte Colin. Die Frau lächelte amüsiert.
-„Jetzt sollte ich mich vielleicht doch einmal vorstellen. Und dann sollen Sie natürlich wissen, warum diese Zusammenkunft hier überhaupt stattfindet. Also vorerst zu mir: Mein Name ist Rebecca Lavoir und meine Aufgabe als Vorsitzende des European Secret Service, kurz ESS, ist die Koordinierung dieses Geheimdienstes.“ Sie tippte etwas auf ihrem Touchscreen, daraufhin fuhr die Leinwand an der einen Seite des Raumes herunter und einer der Videoprojektoren warf ein scharfes Bild der Internetseite der Vereinten Nationen auf das Leinen. „Ich schätze, Sie haben bislang nichts vom ESS gehört. Das macht aber nichts, uns gibt es erst seit 2008. Ich will Ihnen jetzt auch gar nicht die ganze Entstehungsgeschichte unserer Organisation erzählen, aber nur um Sie von der realen Existenz des European Secret Service zu überzeugen, hier einmal die Internetseite der UNO. Wenn Sie auf den Button Sicherheitsrat klicken und dann nach den eingesetzten Geheimdiensten sehen, dann steht hier alles über uns, was man als normaler Besucher dieses Web-Portals wissen darf.“ Sie scrollte zu einem Bild, unter dem ein kurzer Informationstext stand. Ohne Zweifel, das war eine Beschreibung des ESS. Die Frau sagte also die Wahrheit. „Die Vereinten Nationen haben 2002 einen Weltgeheimdienst in Auftrag gegeben: die WSIO – World Security Intelligence Organisation. Seitdem sind kontinentale Ableger dieser Organisation eingerichtet worden – so auch der ESS für Europa. Unser großer Vorteil gegenüber anderen Geheimdiensten wie der CIA oder dem MI6 besteht vor allem in unserer Unabhängigkeit. Keine Regierung schreibt uns unser Programm vor. Für die Gewährleistung der Weltsicherheit ist das ein erheblicher Faktor. Um jetzt einmal auf Ihre spezielle Einladung zu kommen: Eigentlich ist das alles recht einfach. Bei uns läuft seit unserer Gründung ein Headhunter-Programm, mit dem wir versuchen die geeignetsten Personen für eine Agentenanstellung bei uns ausfindig zu machen. Na ja, und da Sie allein durch Ihr Durchsetzungsvermögen an zwei Universitäten in England und Ihre überragenden Qualitäten, die Ihre Abschlüsse beweisen, grundsätzlich in unser Profil passen, wurden Sie letztendlich ausgewählt, um von uns diese Einladung und ein Angebot zu erhalten.“
Rebecca Lavoir lächelte ihn freundlich an. Interessant war die ganze Geschichte natürlich schon. Ein Geheimdienst, von dem er noch nie etwas gehört hatte, der als oberstes Gremium die Vereinten Nationen hinter sich wusste, würde in der heutigen Zeit eine echte Bereicherung für die Weltsicherheit bedeuten. Allerdings leuchtete ihm die Begründung, warum ausgerechnet er in dieses Metier einsteigen sollte, noch nicht ganz ein, wenn sie ihm auch schmeichelte. Grundsätzlich freut sich wahrscheinlich jeder Mann über ein solches Angebot. Es ist ja kein Zufall, dass die wenigstens Schauspieler nein sagen, wenn sie die Rolle eines Ethan Hunt, Jason Bourne oder James Bond angeboten bekommen.
-„Um zum Punkt zu kommen: Wir bieten Ihnen an, ein dreiwöchiges Training bei uns zu absolvieren. Sie haben danach die Möglichkeit auszusteigen und wir haben auf der anderen Seite ebenfalls die Möglichkeit, wenn wir Sie nicht für gut genug befinden. Zusätzlich zu dieser Anstellung, die Ihnen in dieser Zeit selbstverständlich wie eine volle Stelle vergütet wird, halten wir für Sie eine Wohnung in der Nähe unseres Hauptquartiers bereit, in dem wir uns gerade befinden. Bei einer Festanstellung nach Ablauf der drei Wochen können Sie die Wohnung übernehmen, wobei Sie ab diesem Zeitpunkt die Kosten dafür selbst tragen müssten. Das Jahressalär von rund fünfundsiebzigtausend Euro sollte dies allerdings möglich machen.“
Colin überlegte eine Weile. Nachdenklich blickte er immer wieder auf das projizierte Bild des UNO-Internetportals. Er wusste, dass er sich nun schnellstens entscheiden musste, ob er all seine Pläne der letzten Jahre einfach so begraben wollte. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass er nach den drei Wochen mit Erinnerungen an ein spannendes Training und frohen Mutes in seine Welt zurückkehren konnte. Aber was, wenn während des Trainings etwas passierte, dass er niemals vergessen würde? Oder wenn er das Angebot am Ende annähme? Bis auf das Summen der Computer war nichts zu hören. Colin schloss die Augen um sich zu konzentrieren. Die Lust, sich einfach auf diesen Job einzulassen, war riesengroß. Doch war es auch risikolos? Die Antwort kannte er bereits.
Als er seine Augen wieder öffnete, hatte er sich entschieden. Er würde das Angebot annehmen. Schiefgehen würde es schon nicht, er würde aus der Sache mit heiler Haut herauskommen – das war er bis jetzt immer, warum also nicht auch dieses Mal? Die drei Wochen konnten ihm ungeahnte Perspektiven verschaffen. Also erwiderte er:
-„Also gut, überredet. Sie können auf mich zählen. Ich hätte allerdings gerne noch ein paar genauere Informationen über meinen neuen Job. Das können Sie ja möglicherweise in den nächsten Tagen nachholen. Wann soll ich denn anfangen und womit überhaupt? Ich hoffe doch, dass es sich nicht um Briefkastenwühlen und Telefonabhören handelt.“
-„Nein, darum nun wirklich nicht.“ Rebecca Lavoir lachte. „Wir sind nicht nur ein Nachrichtendienst im herkömmlichen Sinne, verdeckte Operationen gehören zum Tagesgeschäft. Der ESS ist also durchaus auch Exekutive der Auftraggeber, in diesem Fall der Vereinten Nationen. Aber wir wollen nicht in Bürokratie verfallen. Für Sie gilt in den nächsten drei Wochen eigentlich nur, Ihren Ehrgeiz und Ihr Können unter Beweis zu stellen. Morgen werde ich Ihnen dann alles Weitere über die nächsten Tage vorlegen können. Sie müssen nur noch hier unterschreiben – damit verpflichten Sie sich, die drei Wochen inklusive Anschlussvertrag, wenn Sie keine andere Vereinbarung über einen Ausstieg mit uns treffen, zu absolvieren und die Geheimhaltung der Geheiminformationen von denen Sie erfahren, zu gewährleisten.“ Colin kritzelte seine Unterschrift unter die Verträge und legte den Füllfederhalter zurück in das kleine Kästchen, aus dem er ihn entnommen hatte. „So, das war’s schon“, fuhr Rebecca Lavoir fort. „Sie haben jetzt bis morgen Zeit alles zu verarbeiten und sich auf die nächsten drei Wochen vorzubereiten. Wie Sie sicherlich bemerkt haben, befindet sich unser Hauptquartier derzeit im Gebäude der Konstanzer Handels- und Handwerkskammer. Die zentrale Lage in Europa und die Nähe zur Schweiz, machen diese Stadt zur idealen Steuerungszentrale für unser Agentennetz. Das Dossier über Sie verriet uns, dass Sie sich in Konstanz auskennen. Es dürfte also kein Problem für Sie sein, Ihre Wohnung zu finden. Rausgehen wie Sie gekommen sind, dann über die alte Rheinbrücke und in den Grüngang einbiegen, direkt neben dem Casino ist das Haus Nummer elf. Sie bewohnen die Wohnung Nummer sieben mit Seeblick und Balkon im zweiten Obergeschoss. Wir haben uns erlaubt, Ihr Gepäck schon mal aus Ihrer Studentenwohnung in Oxford zu holen.“
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