Eckhard Lange
Allerlei Gedanken zum Thema Tod
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Inhaltsverzeichnis
Titel Eckhard Lange Allerlei Gedanken zum Thema Tod * Dieses ebook wurde erstellt bei
Eine Vorrede
Ein Tod – eine Erzählung
Assoziationen und Einfälle
Lieder zur Trauerfeier
Auszüge aus Predigt und Traueransprache
Aus religionspädagogischen Seminaren zum Thema „Mit Kindern über den Tod reden“
Ausgewählte Abschnitte aus verschiedenen Romanen und Essays
Anja
Theodor S. Ath
Gilbert Gamesch am Sterbebett seines Freundes Nikolas.
Gilberts Träume vom Tod
Ganz persönliche Gedanken
Impressum neobooks
Wenn junge Leute sich selten Gedanken machen über den Tod, wer wollte es ihnen verdenken! Meinen sie doch, daß noch viele Jahrzehnte Leben vor ihnen liegen. Wo sie dem Sterben begegnen, trifft es ja zumeist die Älteren, die Generationen der früher Geborenen. Und wenn der Tod einen der Ihren, einen Gleichaltrigen, ereilt, durch Unfall, durch irgendein ererbtes Leiden, wenn er ihnen plötzlich ganz nahe kommt, mag er zwar ein Schock sein, ein kurzes Innehalten bewirken, aber das war ja doch eine Ausnahme, und der Zufall hat einen anderen gewählt.
Und die Älteren? Man sagt gerne, in diesen modernen Zeiten würden wir alle den Tod aus unseren Gedanken verdrängen, so wie wir das Sterben aus unseren Häusern verdrängt haben. Dabei scheint mir, nicht so sehr angstvolles Verdrängen, sondern viel eher achselzuckender Gleichmut beherrscht unser Verhältnis zum eigenen Ende. Trauer beim Abschiednehmen? Ja, schon. Aber tiefes Erschrecken, erschütternder Schmerz? Er findet sich nur selten.
Angesichts steigender Lebenserwartung, lang andauernder Pflege, angesichts miterlebtem Versinken in Demenz und Parkinson, mischt sich vielfach eher Erleichterung in unsere Trauer. Da ist der Tod fast schon ersehnt oder doch willkommen, weil er die Bilder des Elends beendet. Wir gönnen ihn dem Sterbenden. "Erlösung" ist ein oft gewähltes Wort in jenen schwarzgeränderten Anzeigen. Erlöst fühlen sich (manches Mal mit schlechtem Gewissen) auch jene, die es dort geschrieben haben: Erlöst von der Last der Verantwortung, von belastenden Pflichten, und auch von dieser bedrückenden Hilflosigkeit.
Doch spielt bei all unseren Gefühlen das Danach noch eine Rolle? Der Gedanke an ein Jenseits, die Furcht vor dem Nichts, gar die Angst vor einem göttlichen Urteil? Wir haben das Fegefeuer abgeschafft und auch die Hölle, den Ort ewiger Schrecken. Aber andererseits auch diese tröstliche Hoffnung auf ein Paradies. Es reicht, sich ein wenig mit den Berichten über so manches Nahtoderlebnis zu beruhigen. So schlimm kann es also nicht werden jenseits der Grenze, wenn es dieses Jenseits denn geben sollte.
Aber ich war drei Jahrzehnte Gemeindepfarrer, also einer, der schon von Berufs wegen dem Tod ständig ins Auge schauen mußte? Der Woche für Woche Hinterbliebene besuchte (und manchmal sogar Sterbende), der die uralten Worte biblischer Hoffnung weitersagen sollte beim zeremoniellen Abschied, der hinter Sarg oder Urne hinausgezogen ist zu einer offenen Grube, um Asche zur Asche und Staub zum Staube zu legen? Brennt sich nicht der Tod tief in sein Denken ein, bestimmt er nicht ganz anders sein tägliches Tun und Lassen?
Darum habe ich im Folgenden zusammengetragen, was das Thema Tod im Laufe vieler Jahre in mir ausgelöst hat, öffentlich ausgesprochen oder eher unausgesprochen, in Augenblicken der Stille und des Nachdenkens. Vieles davon hat bereits an anderem Ort seinen Weg in die Öffentlichkeit gefunden: Lieder, Trauerreden oder Predigten, ist eigentlich ein Abschnitt in einem Essay oder einem Roman und hier nur noch einmal zusammengetragen. Manches andere sind Gedankensplitter geblieben, spontane Einfälle, Versuche, die eigenen Vorstellungen in Worte zu fassen.
Es ist letztlich immer die eine Frage, doch es sind sehr unterschiedliche Antworten, die dabei zusammengekommen sind.
Der Wagenführer Gert Grundmann stand und starrte auf den Strom der Fahrgäste, der aus seinem Zug den Bahnsteig entlang den Ausgängen zuspülte. Da liefen sie, und ihre Blicke waren geradeausgerichtet. Es zog grußlos vorbei - das Heer, das ihm Sicherheit verdankte, jeden Tag. Und wo einmal ein Auge ihn traf, da tastete es gleichgültig über die Uniform hin, umgriff für Sekunden die Aktentasche mit Frühstücksbrot und Kaffeeflasche, glitt vorüber, ohne zu verstehen: Dort steht Gert Grundmann, Fahrer des Stadtbahnzuges 709.
Den Mann an der Sperre grüßen sie alle, dachte er. Dem Aufsichtsbeamten nicken sie zu, dachte er. Aber für ihn gab es nur das Nicken der Signale und das leise Summen der Kontrolluhr im Führerstand - alle zwanzig Sekunden die Frage aus dem Metall: Lebst du noch? Und alle zwanzig Sekunden der Tritt auf den Fußhebel: Ich, Gert Grundmann, lebe noch! Der Uhr war es nicht gleichgültig. Sie würde erschrecken, wenn die Antwort einmal ausbliebe, und sie würde statt seiner handeln. Aber sonst war keiner, der fragen würde: Lebst du, Gert Grundmann?
Der Zug glitt über die Schienen hinweg. In seinem blauen Bauch barg er vierhundertsiebenunddreißig Fahrgäste - eine kleine Welt, wohlgeordnet in Reiche und Arme, Raucher und Nichtraucher; aber keinen, der fragen oder nicken oder grüßen wird. - Signale, Bahnhöfe, Signale; und immer das Summen der Uhr und die Antwort des Fußes: Ich lebe. Ich lebe noch.
Und wenn er eines Tages nichts mehr erwidert, werden sie seinen Namen in die Zeitung setzen: "Gert Grundmann... im Alter von neunundfünfzig Jahren... in treuer Pflichterfüllung... stets ein ehrendes Andenken bewahren... Die Direktion. Der Betriebsrat." Sie werden ihn gar nicht kennen. Und sie werden seiner auch nicht gedenken. Aber die Vorschrift verlangt das - als Gegenleistung für treue Pflichterfüllung.
Signale, Bahnhöfe, Signale. In Gert Grundmann war Haß. Jeder Blick, der ihn mit Gleichgültigkeit streifte, jedes Nicken, das ihm nicht galt, jeder Gruß, der an ihm vorbeifiel, nährte den Haß. Aber der Wagenführer wußte nichts davon. Sein Fuß trat die Antwort, sein Auge maß die Signale. Er wußte nicht, daß er wartete - auf den Augenblick wartete, wo man ihn beachten müßte. Und dann, ohne jeden Übergang, war er gekommen. Der Haß tauchte empor und gebar die Tat in seinen Körper hinein:
Das Geleise neigte sich einen langen Hang hinab, unten stand das Signal vor der Weiche. Es zeigte auf Halt, und er wußte, daß die Weiche dahinter seinen Weg versperrte. Das Vorsignal glitt vorüber: Jetzt hatte er die Bremse zu betätigen. Aber seine Hand lag starr auf dem Fahrthebel, schwer lastete ihr Druck, steigerte die Geschwindigkeit. Es war, als wollte alles an ihm vereisen. Nur das Blut schlug gegen die Schläfen: Du mußt bremsen, Wagenführer 709! Doch etwas sang in ihm: Sie werden dich im Andenken bewahren, Gert Grundmann! Und der Fuß trat höhnisch die Antwort: Ja, ich lebe! Jetzt erst lebe ich!
Die Räder klirrten auf dem Stahl der Schienen; seine Augen fraßen sich am Rot des Signals fest: Dort würde die Selbstbremse einsetzen, aber es wird dann schon zu spät sein - zu schnell drehten sich bereits die Achsen dem Tal entgegen.
Du bist wahnsinnig, dachte er. Doch die Hand lag ruhig und sicher auf dem Hebel. Die Hand eines Mörders, dachte er. Doch der Fuß belog mit stetem Gleichtakt die Kontrolluhr. Die Signalleuchte flog heran, hatte ihr Rot über alles gegossen, was vor ihm lag. Sein Auge vermochte keine anderen Farben mehr zu fassen, und so blieb ihm auch verborgen, daß eben nun dem Zug der Weg freigegeben wurde.
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