Eckhard Lange
Das Tagebuch
Erzählung
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Inhaltsverzeichnis
Titel Eckhard Lange Das Tagebuch Erzählung Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Ich beginne mit dem Schreiben. Ich beginne, weil etwas in mir sagt: Schreib es auf! Ich kenne diese Stimme nicht. Aber sie ist mächtig. Übermächtig. Deshalb muß ich schreiben. Nein, ich bin kein Schriftsteller, und ich werde es kaum jemals werden. Ich bin ein Schreiber. Bloß ein Schreiber. Schriftsteller wissen, was sie schreiben. Sie wissen, was geschehen soll, sie haben ein Ziel vor Augen. Ein Roman muß ein Ende haben. Sonst wäre es keiner.
Ich weiß nichts. Alles, was ich schreiben werde, ist Zukunft, ist Zufall: Das, was auf mich zukommt; das, was mir zufällt. Ich kenne es nicht. Noch nicht. Es geschieht erst, wenn ich es schreibe. Es hat kein Ziel. Oder besser: Es hat ein Ziel, das ich nicht kenne, das ich nicht plane. Ich weiß nicht, ob es ein logisches Ende haben wird, damit ein Leser das Geschriebene befriedigt, vielleicht sogar beglückt, aber jedenfalls beruhigt zur Seite legen kann. Ich schreibe überhaupt nicht für Leser. Ich schreibe für mich. Ich schreibe, damit meine Erinnerung mich nicht betrügen kann, wie Erinnerungen es so gerne tun. Später, wenn ich es einmal lese, werde ich wissen, was tatsächlich einmal geschehen ist. Weil ich es aufgeschrieben habe. Und vielleicht werde ich dann auch ein Ende finden, ein Ziel entdecken, einen Sinn ausmachen. Vielleicht. Später. Nicht jetzt, wenn ich schreibe.
Ich sitze am Küchentisch, vor mir liegt mein Tagebuch. So will ich es nennen, auch wenn es wohl keines wird. Ich habe den Stift in der Hand, und ich blicke aus dem Fenster, über den Blumenkasten hinweg. Ein Kind spielt vor dem Nachbarhaus. Ich beobachte es oft, dabei kenne ich nicht einmal seinen Namen. Manchmal ist es ein Junge, viel öfter aber ein Mädchen. Ich kann es nicht unterscheiden. Ist das wichtig? Vielleicht. Wenn es größer wird, muß es sich entscheiden.
Warum schaue ich diesem Kind zu? Aus Neugier? Aus Langeweile? Oder sehe ich dort etwas anderes, etwas, was lange zurückliegt? Blicke ich in einen Spiegel? Da sitzt ein Kind in einem Sandkasten. Es hat Häuser geformt aus dem feuchten Boden, sie an Straßenzüge gereiht, es hat Bäume gepflanzt mit kleinen Stöckchen. Es hat eine Welt erschaffen, nun will sie belebt sein. Unsichtbare Fahrzeuge nutzen die Straße, Motoren brummen, Bremsen quietschen, Hupen ertönen. Unsichtbare Menschen treten aus den Häusern, grüßen einander, reden miteinander.
Eine Stimme hinter mir sagt: „Er führt schon wieder Selbstgespräche!“ Ich werde diesen Satz nicht mehr los. Ich werde ihn nie loswerden. Er verletzt mich. Nicht ich rede, die Menschen reden. Menschen, die dieser Beobachter hinter mir nicht sieht. Nicht sehen kann. Und die doch da sind. Gibt es denn mehr als die eine Welt? Ich sehe etwas, was andere nicht sehen. Warum ist das so? Habe ich etwas zu viel? Oder hat jener Beobachter etwas zu wenig? Und was ist dieses Etwas? Ist es wichtig, oder eher lästig? Das Kind damals hat lange gebraucht, darüber nachzudenken. Eigentlich bis heute. Gehört diesem Etwas vielleicht die Stimme, die gesagt hat: Schreib es auf?
Muß ich das schreiben? Ja, ich muß. Die Stimme, ich weiß. Aber diese Stimme, das bin ich – ich selbst. Selbstgespräche! Ich befehle mir zu schreiben. Doch warum kann ich mir nicht befehlen, nicht zu schreiben? Obwohl ich das doch manchmal möchte. Weil es nutzlos scheint. Weil ich nicht weiß, warum etwas geschieht – so geschieht. Aber weiß ich das jemals; weiß das überhaupt irgendwer?
Am Nachbartisch sitzt ein Ehepaar. Sie sind vierzig Jahre verheiratet. Mindestens. Woher ich das weiß? Ich weiß es nicht, ich sehe es. Sie sagen nichts, schweigend essen sie ihren Krustenbraten mit Beilage. Beim Essen soll man nicht reden, hat man mir eingeschärft. Auch sie werden es so gelernt haben. Aber sie haben auch vorher nicht gesprochen, als sie auf die bestellten Teller gewartet haben. Sie haben geschwiegen, ohne sich dabei anzuschauen, so wie es manchmal Verliebte tun. Für Verliebte ist allein der Anblick des anderen schon so erregend, daß er sie sprachlos macht.
Sie haben sich auch nicht umgeschaut wie Menschen, die Neues entdecken wollen, um nachher darüber zu reden. Sie haben vor sich hin geschaut, irgendwo auf den leeren Tisch. Vielleicht war dort ja ein Kaffeefleck, irgend etwas, das dem Auge einen Halt gewährte. Oder es gab gar nichts zu sehen, und sie wollten auch nichts sehen. Schon gar nicht den anderen; denn den kannten sie ja, in- und auswendig, würde man wohl sagen. Glauben sie jedenfalls. Warum also sollten sie sich anschauen? Und worüber sollten sie reden?
Dabei gäbe es so viel zu sagen, so viele Gedanken, die durch den Kopf gehen. Doch wenn man vierzig Jahre verheiratet ist, muß man sie verschweigen. Ich aber errate sie. „Ich könnte dich umbringen,“ denkt sie. Der Wunsch kam langsam, seit Jahren schon. Eigentlich grundlos, denn er hat ihr nichts getan. Oder war eben das der Grund? Nun ist er da, und bei solchen Augenblicken kommt er ihr in den Sinn. Einfach so, ohne Haß, ohne Verachtung, ohne Wut. Nur wegen der vierzig Jahre. Wegen so vieler verlorener Jahre. Irgendwann wird sie es tun, vielleicht nach weiteren zehn Jahren. Ich sehe es. Ich schreibe es auf, jetzt, hier, damit ich es später beweisen kann, wenn ich es in der Zeitung lese.
Aber es wird nicht in der Zeitung stehen. Jedenfalls nicht als Totschlag, sondern höchstens als schwarzgeränderte Mitteilung, daß jemand tiefe Trauer trägt um den geliebten und fürsorglichen Ehemann. Solche Taten bleiben unentdeckt, ungesühnt. Es war ja kein Gift im Spiel, kein Hammer und kein Küchenmesser. Es hat gereicht, daß sie ihm schweigend gegenüber saß. Weitere zehn Jahre. Das hat ihn getötet, langsam und qualvoll. Es hätte auch umgekehrt sein können. Denke ich jedenfalls. Hier gilt nicht Mann noch Frau, hier sind sie sich ganz einig in ihrem Denken. Es wird ein Wettstreit werden, wer in diesem Schweigen sich als der Stärkere erweist, wer im Blick auf den Kaffeefleck obsiegt.
Jetzt trinkt er. Er greift nach dem Glas, führt es zum Mund. Ohne sie anzusehen, ohne das Glas zu erheben auf irgendetwas. Das ist seine Waffe. Einfach nur trinken, weil er Durst hat. Oder weil der Braten zu trocken war. Nur darum. Nur er für sich. Weil es sie gar nicht gibt. Vielleicht wird er es sein, der ihr zuvorkommt, der als erster töten wird. Ich muß es notieren, es ist wichtig für später. Ich muß über das Schweigen reden, nur für mich. Und nur mit mir. Damit ich mich nicht mit meinem eigenen Schweigen umbringe. Ich schreibe gegen den Suizid – meinen Suizid. Denn zum Schweigen braucht es kein Gegenüber, es reicht der Spiegel. Wenn man nicht mehr hineinschaut, weil der Anblick nur noch quält. Auch solch wegblickendes Schweigen tötet. Darum muß ich es aufschreiben, jetzt, hier. Es könnte sonst zu spät sein.
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