"Sie ist weg..." sagte er immer wieder. "Mach dir keine Sorgen, sie ist weg, Lenyca. Es ist alles in Ordnung."
Nichts war in Ordnung.
Gar nichts.
Er spürte, wie das Kind sich an ihn drückte und allein das beunruhigte ihn mindestens genauso sehr wie ihre Worte. Sie hatte Angst. Und sie hatte noch nie Angst gehabt.
Dann endlich, die große Doppelflügeltür zum Ratssaal. Ein Diener, der davorstand, machte Anstalten, anzuklopfen, um Wandan anzukündigen, doch der oberste Cas schob ihn einfach zur Seite und stieß das Portal auf.
Um einen langen Tisch saßen beinahe zwanzig Personen. Wandan kannte sie alle. Es waren vor allem Dunen, also die obersten Händler, Handwerker und Bauern des Landes, aber auch zwei Rechtsprecher und - natürlich - der Shaj Saton, der am Kopfende der Tafel Platz genommen hatte. Die Köpfe flogen herum und eine Frau, die anscheinend gerade einen Bericht vorgetragen hatte, verstummte.
"Saton!" rief Wandan, ohne für sein Stören um Verzeihung zu bitten. "Saton! Du musst kommen. Schnell!"
Erst jetzt erkannte der Herrscher, dass Wandan seine eigene Tochter auf den Armen hielt. Diese klammerte sich inzwischen an der Lederkleidung des Kriegers fest und vergrub ihr Gesicht darin.
Ohne weiter nachzufragen oder sich der Versammlung zu erklären, sprang Saton auf und eilte auf Wandan zu.
"Was ist passiert?" fragte er kreidebleich und versuchte, Lennys von Wandan zu lösen, aber das Mädchen schien ihren Vater gar nicht zu bemerken.
Doch Wandan wollte nicht antworten. Nicht jetzt, nicht hier, nicht vor all diesen Menschen. Saton schien zu verstehen.
"Nach oben." sagte er nur.
Im Schlafgemach des Shaj war es dämmrig und still. Er empfing niemals Besuch in diesem Raum und er konnte sich nicht erinnern, wann Wandan ihn zuletzt hier in seiner Ruhe gestört hatte, um ihm einen Angriff durch Feinde oder ähnliche unaufschiebbare Meldungen zu überbringen. Es musste Jahre her sein.
"Sie schläft." sagte der Heiler. "Mindestens bis morgen früh. Das Mittel wirkt. Hoher Shaj, ich könnte vielleicht mehr für sie tun, wenn ich wüsste, was..."
"Du kannst nicht mehr für sie tun. Lass uns jetzt allein."
Der Mann nickte und verschwand.
Saton und Wandan blieben zurück und ihr beider Blick ruhte jetzt auf dem schlafenden Mädchen, das sich unter einer Wolldecke auf Satons Bett zusammengerollt hatte. Der Shaj beugte sich hinunter, gab ihr einen Kuss auf die Wange und streichelte ihre Schulter.
"Es war kein Traum." sagte er leise.
Wandan nickte.
"Ich weiß."
"Sie sagte, die Schlange hätte ihr wehgetan."
"Sie hat keine Verletzungen."
Saton schüttelte den Kopf.
"Das hatte ich auch nie. Aber... so früh... es ist doch viel zu früh..."
"Wie alt warst du damals?"
"Fast elf."
"Kannst du dich noch daran erinnern?"
"Wie könnte ich es je vergessen? Ich glaube nicht, dass sie große Schmerzen hatte. Das hatte ich auch nicht. Er hat mir auch wehgetan, ja. Aber nicht sehr. Aber, meine Güte, sie ist erst sechs!"
"Warum zeigt er sich ihr so früh?"
Obwohl der Shaj die Antwort zu kennen glaubte, sagte er nichts. 'Ist das deine Rache, Ash-Zaharr?' fragte er sich. 'Es ist nicht ihre Schuld. Lass sie nicht für etwas bezahlen, das andere getan haben. Sie ist doch noch ein Kind.'
"Wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein, Wandan. Er hat sie erschreckt. Ich habe sie nicht darauf vorbereiten können, weil ich niemals geglaubt habe, dass er sie jetzt schon... War das ein Fehler?"
"Du konntest es nicht wissen."
"Wirklich nicht? Vielleicht hätte ich es wissen müssen. Ich werde es ihr erklären müssen. Alles. Aber ich wünschte, ich hätte es vorher getan. Ich habe wohl mit allem... zu lange gewartet."
29. Tag des Assmon im 22. Jahr Satons
"Ich verstehe ihn einfach nicht."
Sichtlich verärgert ging Saton im Ratssaal auf und ab. Die Gruppe, mit der er sich heute zusammengefunden hatte, war kleiner als üblich, doch die Mitglieder umso bedeutsamer.
Ron-Caha-Hel, der Shaj der Erde.
Maliss, die Shaj des Himmels.
Viriqua, die Oberin des semonischen Tempels.
Talmir, der höchste Priester aus Zarcas.
Die neun Cas.
Nur einer, der eigentlich zu der Runde gehören sollte, fehlte.
"Du hättest ihm nicht die Wahl lassen sollen." brummte Wandan. "Freiwillig wird er nie aus Yto herunterkommen."
"Freiwillig? Seit Jahren liegt er mir in den Ohren mit dieser Angelegenheit. Und jetzt, da wir endlich bereit sind, hält er es nicht einmal für nötig, nach Semon-Sey zu reisen!"
"Er wäre gekommen, wenn du es von ihm verlangt hättest. Du bist der Shaj."
"Wenn überhaupt jemand Mondor hierher befehlen sollte, dann ist es Maliss."
Die alte Priesterin wich zurück.
"Ich? Mondor etwas befehlen? Verzeih, aber das würde mir im Traum nicht einfallen. Er ist ein Batí. Priester hin oder her. Der einzige, dessen Befehle er akzeptiert, bist du, Saton. Aber ich muss sagen, ich kann verstehen, dass man ihn nicht unter Druck setzen sollte. Er ist ein ziemlicher Querkopf."
"Meine Rede, verehrte Shaj." schaltete sich nun Talmir ein. "Und überhaupt - wozu brauchen wir ihn? Es war sein Vorschlag, zugegeben, aber was hat er denn zu der Umsetzung beigetragen? Er ist stets oben in Yto geblieben und wer hat die Arbeit gemacht? Wir! Weshalb muss er jetzt zwingend an den letzten Entscheidungen beteiligt sein?"
"Weil ich es will!" donnerte Satons Stimme durch den Saal. Alle Anwesenden verstummten. "Ich würde niemals - hört ihr - niemals - solche wichtigen Beschlüsse fassen, ohne dass der oberste Batí-Priester ihnen zustimmt! Niemals!"
"Wenn Mondor etwas dagegen hätte, wäre er sicher hier, um seine Meinung kundzutun." entgegnete Maliss. "Hat er denn überhaupt nicht auf das Sendschreiben reagiert?"
"Oh doch, natürlich hat er das." Saton schien nun noch wütender. "Er ließ mir ausrichten - ausrichten! ...Er hielt es noch nicht einmal für nötig, zu schreiben! - ... dass seine Anwesenheit nicht notwendig wäre. Das ist alles!"
"Aber dann ist doch alles geklärt. Er ist einverstanden, dass wir die nötigen Weisungen ohne ihn erlassen. Wo ist das Problem?"
Nun meldete sich Ron-Caha-Hel zu Wort.
"Das Problem, lieber Talmir, ist, dass wir uns durch diese Beschlüsse in seine Befugnisse einmischen. Die Schutzbanne der Sichel sind eine Batí-Angelegenheit. Insofern kann ich verstehen, dass Saton sie nicht ohne Mondor regeln will."
"Und doch ist unser hoher Shaj der Nacht selbst ein Batí. Und er steht über Mondor."
"Aber nur über Mondor als Mensch und nicht als Priester."
"Nein, in dieser Hinsicht muss sich Mondor aber ebenfalls unterordnen. Und zwar Maliss."
Ein Räuspern vom Ende des Tisches unterbrach Talmir und die drei Shajs. Es war ausgerechnet der sonst recht zurückhaltende Cas Cala, der um das Wort bat.
"Bitte..." gewährte ihm Saton gleichgültig, zu sprechen.
"Verzeihung, aber wenn ich es recht verstanden habe, gibt es doch auch Dinge zu klären, die nichts mit Mondor zu tun haben."
Saton nickte.
"Cala hat recht. Wir werden das Thema vorerst beiseite lassen. Ron-Caha, wie geht es mit den Vorbereitungen voran?"
Der Shaj der Erde räusperte sich.
"Die Silberwerke beliefern uns täglich. Inzwischen haben wir solche Mengen angehäuft, dass wir ganz Cycalas über ein Jahr damit versorgen könnten. Ein Großteil wurde bereits an einen geheimen Lagerort nahe der Küste gebracht. Wir könnten innerhalb eines Mondes eine ganze Flotte bestücken. Ich halte es aber für sinnvoll, ein größeres Augenmerk darauf zu legen, dass das Volk informiert wird. Sie dürfen keinen Zweifel an unseren Absichten haben."
"Gibt es denn Zweifel?"
Der Shaj der Erde lachte.
"Das fragst du noch, Saton? Es ist nicht leicht, den Menschen begreiflich zu machen, dass unsere Silbervorräte ausgelagert werden müssen, um sie vor Zrundir zu schützen, wenn ausgerechnet du an der Spitze der Säule der Nacht stehst. Kein Hantua würde sich während deiner Herrschaft über unsere Grenzen wagen."
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