„Dann haben wir das ja geregelt“, sagte Lange. „Erzählen Sie mir etwas über das Klassentreffen, das ja offenbar der Anlass oder der Grund für Schneiders Rückkehr war.“
„Okay, wo anfangen?“ sagte Fritsch. „Das erste Klassentreffen haben wir fünf Jahre nach dem Abitur gemacht. Das haben damals die zwei Kollegstufensprecher organisiert, es sind gut drei Viertel der Leute gekommen, es war recht stimmungsvoll und dauerte bis zum nächsten Morgen, wenn auch der Schatten der drei Toten schon irgendwie spürbar war.
Fünf Jahre danach hatten wir ein zweites Klassentreffen, da kam aber nur noch höchstens die Hälfte des Jahrgangs und die meisten sind um 10 Uhr abends wieder gefahren. Danach schlief die Sache ein. Einer der Kollegstufensprecher ist als Arzt nach Frankreich gezogen, die andere Sprecherin, die hier im Landkreis gewohnt hat, ist bald danach bei einem Verkehrsunfall gestorben. Jetzt keine Panik kriegen. Ich hab' damals über den Unfall geschrieben: Stauende auf der Autobahn, ein Laster ist in den Wagen meiner ehemaligen Mitschülerin gebrettert. Das war bestimmt ein Unfall und nichts anderes.
Wie gesagt, die Organisatoren waren nicht mehr da und nach dem eher misslungenen zweiten Treffen war auch kein Bedarf zu spüren. Aber bei denen, die nach der Schule in Gondorf geblieben waren oder nach dem Studium wieder zurückgekommen sind, hieß es in den letzten Jahren häufiger: „Also zum 20. mach ma scho wieder a Klassentreffen.“ Und wie das so geht: Ende letzten Jahres haben sich vier Leute – Michael Fischer, Dieter Voss, Renate Amter und ich – getroffen, um dieses Treffen vorzubereiten. Und weil alle gemeint haben, ich als Journalist, der gut recherchieren kann, wäre doch der ideale Mann, um die aktuellen Adressen herauszufinden und mit den ehemaligen Mitschülern Kontakt aufzunehmen, habe ich diese Aufgabe übernommen.“
Zum ersten Mal während des Gesprächs musste Lange schmunzeln: „Es hat ja nicht direkt mit der Sache zu tun, aber da muss ich einfach nachfragen. Es gibt viele Leute, mich eingeschlossen, die um Klassentreffen einen großen Bogen machen. Was in aller Welt bringt denn jemanden dazu, solch ein Treffen auch noch zu organisieren?“
Fritsch ließ sich Zeit mit der Antwort: „Das habe ich mich in den letzten Monaten auch oft gefragt. Natürlich sind das meist schreckliche Veranstaltungen, bei denen sich Leute treffen, die sich nichts mehr zu sagen haben. Aber: Es gibt halt ein, zwei Leute, in meinem Fall Frauen, die ich einfach gern wiedersehen würde. Wenn die kommen, würde sich die ganze Sache lohnen.“
„Um wen geht es denn da?“, frage Lange neugierig.
„Was sie alles wissen wollen“, sagte Fritsch. „Na gut, um Clarissa Lenz und Bibi Freiwald. Clarissa war der umschwärmte Star der gesamten Klasse, und Bibi war ein hübsches, nettes Mädchen, mit dem ich vor langer Zeit mal was hatte. Wann immer ich an die früheren Zeiten denke, kommt ganz schnell der Gedanke: Was ist wohl aus Clarissa geworden? Was macht Bibi jetzt?“
„Und“, wollte Lange wissen, „kommen die Beiden?“
„Bibi hat per E-Mail zugesagt, von Clarissa hab ich noch keine Antwort.“
„Wie ist denn generell die Resonanz und wie lief das mit Schneider?“
„Wir waren damals rund 50 Abiturienten. Dazu kommen noch eine Handvoll Leute, die irgendwie dazugehören, wie ihr Kollege Dinzig von der Flughafenpolizei, der nach der neunten Klasse die Schule gewechselt hat, aber immer auf den Festen mit dabei war. Zwei Klassenkameraden sind in der Zwischenzeit verstorben, Schneider ist ausgewandert, einer ist Arzt in Frankreich, einer, Johann Dirks, gilt seit dem Abitur als verschollen. Dessen Eltern waren Österreicher, die sind kurz nach dem Abitur weggezogen und keiner weiß, wo Johann abgeblieben ist.
Clarissa arbeitet in Hamburg, zwei Mitschüler sind in Berlin, Bibi lebt in Würzburg, ungefähr ein Dutzend Leute leben in und um München und der große Rest ist im Landkreis Gondorf geblieben. Nach zwei Wochen hatte ich von fast allen Mitschülern die aktuellen Adressen, mit Ausnahme von Johann Dirks, was zu erwarten war, und von Hans Schneider. Dessen Wohnort hatte selbst Dinzig, der ja vermutlich auf den Polizeiapparat zurückgreifen konnte, bei den zwei früheren Klassenfesten nicht ermitteln können.
Das weckte in mir natürlich den Ehrgeiz. Das Internet bietet ja heute ganz andere Möglichkeiten. Wenn man mit Suchmaschinen gut umgehen kann, findet man wahnsinnig viel. Es hat mich einen freien Abend gekostet, mit Hilfe von Suchbegriffen wie „Holzverarbeitung“, „Sägewerk“, exotische Hölzer“, etc. immer in Verbindung mit Südamerika, Argentinien und Paraguay, auf die Spur von Hans Schneider zu kommen. Schließlich habe ich eine kleine Firma namens Hazienda FairWoods am Rande des Urwalds in Paraguay gefunden, als dessen Inhaber ein gewisser Hans Schneider eingetragen ist. Und an diese Adresse habe ich das Einladungsschreiben für das Klassentreffen verschickt. Das war Anfang Januar. Eine Antwort ist nie gekommen – bis letzten Freitag.“
„Haben Sie von dem Adressenfund jemanden erzählt?“, hakte Lange nach.
„Es gab keinen Grund, das zu verschweigen“, sagte Fritsch. „Ich hab natürlich Dinzig erzählt, dass die freie Presse besser darin ist, Leute zu finden als die Polizei. Und ich weiß noch, dass ich Renate, die ich von den Leuten im Organisationskomitee am besten kenne, davon erzählt habe. Und wenn ich Mitschüler von früher getroffen habe, die sich nach dem Stand der Anmeldungen erkundigt haben, dann hab ich dem ein oder anderen sicher auch von Hans Schneider erzählt. Wer das alles im Einzelnen war, kann ich einfach nicht mehr sagen. Das geschah ja alles eher im Januar und Februar, als ich stolz darauf war, Schneider entdeckt zu haben. Als aber keine Antwort kam, habe ich natürlich zu zweifeln angefangen, ob ich überhaupt den richtigen Hans Schneider gefunden hatte.“
„Wie geht das jetzt weiter mit dem Klassentreffen?“, wollte Lange wissen.
„Das ist eine gute Frage. Wir haben 35 feste Anmeldungen, fünf oder sechs Wackelkandidaten und neben Clarissa noch zwei Leute in Berlin, von denen keine Antwort gekommen ist. Bei den Dreien sollte ich eigentlich heute telefonisch nachhaken, aber das werd ich wohl bis morgen verschieben.“
„Und bei Clarissa werden Sie sich vorher noch einen Schnaps genehmigen, um sich Mut anzutrinken, vermute ich mal“, sagte Lange.
Fritsch schnitt eine Grimasse und ging darauf nicht ein. „Geplant ist, dass wir uns am kommenden Samstag um 15 Uhr an der alten Schule treffen, dort mit dem jetzigen Rektor einen Rundgang machen und dann ab 16.30 Uhr im Hotel Post sind“, fuhr Fritsch fort. „Wenn sicher ist, dass der Tote Hans Schneider ist, werde ich das allen Klassenkameraden per E-Mail mitteilen. Ich bin ja katholisch erzogen und werd mal schauen, ob wir für diesen Fall kurzfristig eine Andacht in der Stadtpfarrkirche für 17 Uhr bekommen. Wobei: Ich muss noch mit den anderen sprechen, ob wir das Klassentreffen nicht kurzfristig absagen.“
„Wenn die Leiche identifiziert ist, dann lassen Sie uns darüber nochmals reden. Kann sein, dass ich Ihre Hilfe brauche“, sagte Lange.
„Woran denken Sie?“
„Dass Sie das Klassentreffen auf keinen Fall absagen und Ihren E-Mails den Satz hinzufügen, dass die Polizei sie gebeten hat, allen Mitschüler mitzuteilen, dass sie zum Klassentreffen kommen und Zeit für ein kurzes Gespräch mit der Polizei einplanen sollen. Wer nicht kommt, den müssen wir gegebenenfalls nach Gondorf vorladen oder am Wohnort von Kollegen befragen lassen. Das wäre machen peinlich, vermute ich mal.“
„Ich sehe Sie schon in Action, wie Sie am Klassentreffen alle verhören und dann wie ein Meisterdetektiv beide Mordfälle lösen“, scherzte Fritsch.
„Warten wir mal ab“, sagte Lange. Es klopfte an der Tür, ein Beamter trat ein und flüsterte Lange etwas ins Ohr. „Entschuldigen Sie“, sagte er, „ich bin gleich wieder da.“ Fritsch nutzte die Gelegenheit, sein Handy auf Nachrichten durchzusehen. Es war nichts wirklich Wichtiges dabei, außer einer SMS von Renate, dass es einem ihrer Kinder nicht gut ging und sie deshalb das gemeinsame Abendessen verschieben mussten – auf morgen?! Fritsch sendete ein „Gute Besserung für Elena“ und „Lass uns morgen telefonieren. Ich bin noch bei der Polizei.“ zurück. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es inzwischen nach 19 Uhr geworden war und er einen Mordshunger bekam.
Читать дальше