Bevor er sich ans Schreiben machte, wollte er noch etwas in privater Sache erledigen. Renate oder Gerti? Beide – Renate Amter und Gerti Grünthaler – waren ehemaligen Schulfreundinnen, mit denen Fritsch eine Freundschaft und ab und an auch mehr pflegte. Das Läuten des Telefons ersparte ihm weitere Überlegungen. „Stimmt das mit dem Unfall in Hinkofen?“, frage eine aufgeregte Renate Amter. Die Kunde von dem tragischen Ereignis hatte in Gondorf offenbar schon die Runde gemacht.
„Ja, und wie es aussieht, saß Hans Schneider in dem Auto, das von der Straße abgekommen und verbrannt ist. Du Renate, hör zu: Ich bin gerade erst in die Redaktion zurückgekommen und hab einen Haufen Arbeit vor mir. Hättest Du Lust, dass wir uns heute Abend im Venezia treffen und die ganze Sache in Ruhe besprechen?“
„Das ist ja der Hammer. Ja, das mit heute Abend passt mir gut. Ich wollte die Kids eh' zur Oma bringen.“
Bei diesen Worten spürte Fritsch ein leichtes, wohliges Ziehen zwischen den Beinen. Sein letzter Sex war schon eine ganze Weile her. Auch wenn seine alte Schulkameradin die Geschichte mit der Oma ganz geschäftsmäßig erzählt hatte: Sie waren beide keine Kinder mehr, das war zwischen den Zeilen eine versteckte Einladung. Sie würden über den Fall diskutieren, von alten Zeiten reden, gut essen und trinken. Und hinterher hatte Fritsch nicht vor, allein in seinem Bett zu schlafen.
„Klasse Renate. Ich muss noch um 18 Uhr zur Polizei. Passt Dir 20 Uhr in der Pizzeria?“
„Geht klar, bis heut Abend“, sagte Renate und legte auf. Und Fritsch öffnete gut gelaunt das Redaktionssystem auf seinem PC und haute in die Tasten.
SECHS
Kripochef Lange hatte keine Zeit verloren. Nach einem kurzen Gespräch mit Dienststellenleiter Josef Steininger berief er seine wichtigsten Mitarbeiter zu einer Sitzung ein. Neben Lange und Steininger nahmen sein Stellvertreter Johann Hirtreiter, der Kripoinspektor Karl Adam, Georg Grundner, der den Kontakt zu den Medien halten sollte, sowie der Polizeitechniker Timo Manzinger an dem Treffen teil.
„Bevor ich das Wort an Hauptkommissar Lange übergebe, möchte ich klarstellen, dass dieser Fall bis auf weiteres oberste Priorität genießt“, eröffnete Dienststellenleiter Steininger das Treffen. „Für jeden, der an dieser Sitzung teilnimmt gilt, dass alle anderen Fälle abgegeben werden bzw. später behandelt werden. Außerdem gehe ich davon aus, dass wir aus München Verstärkung bekommen und dann eine SOKO Hinkofen bilden werden.“
Kripochef Lange hatte einen Notizzettel, auf dem er die wichtigsten Punkte der Ermittlungen notiert hatte, in seinen Händen. Ganz oben auf der Liste stand mit Großbuchstaben: WER IST DER TOTE?
Er räusperte sich kurz, dann ergriff er das Wort: „Liebe Kollegen, im Frühstadium einer Ermittlung ist es entscheidend, die Fakten lückenlos zu ermitteln. Für Vermutungen und Hypothesen ist später Zeit. Die wichtigste Frage ist: Wer ist der Tote? Handelt es sich wirklich um Hans Schneider, der nach 20 Jahren nach Gondorf zurückgekehrt ist? Aufgrund des Zustands der Leiche brauchen wir so schnell wie möglich alle Informationen, die uns bei der Identifizierung weiterhelfen können: besondere Merkmale, Operationen, Aufnahmen des Zahnarztes vom Gebiss, etc. Daraus ergibt sich die Frage: Wer könnte sonst das Opfer sein? Gibt es Personen, die im Landkreis Gondorf oder in ganz Bayern als vermisst gemeldet worden sind? Nach den ersten Angaben des Arztes handelt es sich um eine männliche Leiche, eher schlank, ca. 1,80 m groß, im Alter zwischen 30 und 50 Jahren. Zum 1. Punkt, Identifikation der Leiche, noch Fragen oder Anmerkungen?
Karl Adam hakte ein: „Die Vermisstenliste für Bayern habe ich gerade durchgesehen. Da herrscht Fehlanzeige bis auf drei weibliche Jugendliche, die ja wohl nicht in Frage kommen.“
„Danke, Herr Kollege“, kommentierte Lange. „Um nicht wichtige Zeit zu verlieren, sollten wir also bei den Ermittlungen davon ausgehen, dass es sich bei der Leiche um Hans Schneider handelt. Das wirft eine Unmenge von weiteren Fragen auf. Fangen wir mit den Punkten an, die wir abhaken können: Wann ist Hans Schneider in Deutschland angekommen? Ist er vom Zoll / von der Polizei bei der Einreise kontrolliert worden? Was hat er gemacht zwischen seiner Ankunft und Sonntag, 8 Uhr morgens, der ungefähren Tatzeit? Hatte er ein Handy? Hat er mit jemanden gesprochen, hat er jemanden getroffen? Wie ist da der Stand, Kollege Hirtreiter?“
„Ich hab mich gleich nach Ihrem Anruf vom Tatort an die Sache drangesetzt. Nach Auskunft der Lufthansa ist ein Hans Schneider am Samstagabend um 19.35 Uhr am Flughafen München angekommen, mit dem Flug LH 9369 von Buenos Aires nach München. Die Kollegen vom Grenzschutz und vom Zoll haben keine besonderen Vorkommnisse mit den Passagieren dieses Fluges gemeldet. Ich habe die Kollegen am Flughafen aber gebeten, mit den Beamten, die die Personenkontrolle der Passagiere übernommen hatten, zu sprechen, ob ihnen etwas aufgefallen ist.
Die Anfragen bei den Autovermietungen haben ergeben, dass ein Hans Schneider am Sixt-Stand laut Rechnung von gestern, 20.45 Uhr, einen schwarzen Ford Fiesta für eine Woche gemietet hat. Die Vermietung wurde über die Kreditkarte – einer American Express – von Schneider abgewickelt. Der Wagen war voll aufgetankt. Nach Auskunft des Betreuungspersonals von Sixt hat der Wagen die Sixt-Niederlassung um 21.05 verlassen. Die Angestellten, die am Schalter und bei der Auslieferung mit der betreffenden Person zu tun hatten, haben um 14 Uhr wieder mit ihrem Dienst begonnen.“
„Das mit dem Wagen ist eine wichtige Übereinstimmung. Ich möchte, dass Sie nach Ende der Besprechung sofort zum Münchner Flughafen fahren und mit allen sprechen, die mit Herrn Schneider zu tun hatten“, nahm Kripochef Lange den Ball auf. „Ich werde mit meinen alten Kollegen in München sprechen, damit sie Ihnen einen Zeichner zum Lufthansa-Schalter schicken. Wir brauchen ein Phantombild von Schneider. Wenn Sie dieses Bild haben, klappern sie alle Geschäfte im Flughafen ab. Wir dürfen auch die Flugbegleiter und Stewardessen nicht vergessen. Finden Sie heraus, wer auf dem Flug Dienst hatte und bestellen Sie die betreffenden Personen ebenfalls an den Flughafenschalter. Jede Information ist wichtig: Wie wirkte Herr Schneider – traurig, verzweifelt, aufgedreht? Machte er einen lebensmüden Eindruck?
Kollege Adam, nehmen Sie sich alle Hotels und Pensionen im Umkreis des Flughafens bzw. auf der Strecke nach Gondorf vor. Vielleicht hat Schneider ja die Nacht in einem Bett verbracht und gerade gefrühstückt, als wir ihn tot in der Schlucht vermutet haben. Wir müssen auf jeden Fall lückenlos klären, was Schneider nach seiner Ankunft in Deutschland gemacht hat.
Nachdem Sie in Gondorf aufgewachsen sind, können Sie uns erzählen, was Sie über Schneider wissen?“
Adam räusperte sich, blickte auf seine Aufzeichnungen und berichtete, dass Schneider vor 20 Jahren gleich nach dem Abitur nach Paraguay gegangen war, um für ein Jahr an einem Forstprojekt der Kirche mitzuarbeiten. Von diesem Aufenthalt kam Schneider all die Jahre nie zurück. Nach dem freiwilligen Jahr nahm er eine Stelle bei einem großen Forstunternehmen an, dessen Besitzer deutschstämmig war. Das waren die Geschichten, die ehemalige Klassenkameraden von Schneider in Gondorf erzählten. Was Schneider die letzten Jahre gemacht hatte, darüber hatte Adam keine Informationen.
Lange übernahm wieder: „Aus meiner Kripozeit in München kenne ich einen Kollegen, der für ein Jahr im Austausch in Buenos Aires gearbeitet hat. Diesen spanisch sprechenden Kollegen habe ich gebeten, über die Polizei in Asuncion und wenn nötig mit Hilfe von Interpol Kontakt zu den Angehörigen von Schneider in Paraguay aufzunehmen. Ich hoffe, dass wir so schnell wie möglich Informationen über Schneider bekommen und seine Krankenakte, vor allem die Unterlagen von seinem Zahnarzt. Das könnte bei der Identifizierung unserer Leiche sehr hilfreich sind. Und falls Schneider verheiratet war, dann hoffe ich, dass seine Frau so schnell wie möglich herüberkommt.
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