»Ich habe es schon irgendwo gesehen«, murmelte Luisa Navarro unsicher.
»Lange Rede, kurzer Sinn. Sie sehen hier ein Seitengewehr beziehungsweise Bajonett, das zur Standardausrüstung einer russischen AK-47 gehört. Diese Schusswaffe wurde in den Armeen der damaligen Sowjetunion und den Satellitenstaaten als Standardwaffe eingesetzt.«
»Also auch in Ostdeutschland?«, unterbrach ihn Filipa Pérez neugierig.
»Ja, die Nationale Volksarmee der DDR besaß die Waffe ebenfalls als Standardgewehr.« Er hielt kurz inne, ehe er weitersprach: »Bereits die Aufnahme zeigt deutlich, dass dieses Messer äußerst robust ist. Es kann für zahlreiche Aufgaben genutzt werden, beispielsweise als Kampfmesser, aufgepflanzte Stich- und Hiebwaffe am AK-47, Drahtschere oder Multifunktionswerkzeug.«
»Wie sicher sind Sie, dass es sich tatsächlich, um die Tatwaffe handelt?« Carlos sah ihn skeptisch an.
»Ziemlich. Wie werden natürlich Ihren beiden Obduktionsergebnisse mit in unsere Expertise einarbeiten, doch das wird kaum etwas an meiner Grundüberzeugung ändern.«
»Konnten Sie bereits den Lebensweg von Guntram Neumann zurückverfolgen?«
Ralf Wegner, der zweite BKA-Beamte, nickte sofort und erklärte lächelnd: »Ja. Auch das letzte Opfer lebte in der DDR und wohnte in Potsdam. Erst 1992 zog er nach Düsseldorf um.«
»Also stammen sämtliche Tote aus Ostdeutschland. Das ist zumindest ein gemeinsamer Ansatz«, brummte Luis Alonso.
Wegner sah ihn kurz an, ehe er meinte: »Außerdem ist Neumann vermutlich nicht der unbescholtene Bürger, für den er sich wahrscheinlich selbst gehalten hat. Der Herr ist nämlich bei uns aktenkundig.«
»Weswegen?«
»Auffälliges pädophiles Verhalten gegenüber Schutzbefohlenen.«
»Oh«, Sanchez richtete sich kerzengerade auf, »können Sie schon Näheres dazu sagen?«
»Ja, ich habe mir heute Morgen die Akten per Mail schicken lassen. Aus denen geht hervor, dass gegen Neumann insgesamt drei Gerichtsverhandlungen anhängig waren. Leider wurden sämtliche Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt.«
»Das besagt manchmal überhaupt nichts.«
Der Deutsche nickte und zeigt mit dem Zeigefinger lächelnd auf die Stichwortgeberin Manuela Torres. »Da gehe ich 100%ig mit.« An alle gewandt, meinte er dann: »Neumann war zeitlebens als Hausmeister an zahlreichen Schulen beschäftigt. In Düsseldorf gab es einige Anzeigen gegen ihn. Er soll mehrfach Grundschüler in seine Arbeitsräume, die sich meistens im Kellergeschoss der Gebäude befanden, gelockt haben, um an den Kindern sexuelle Handlungen vorzunehmen.«
Nachdem er das gesagt hatte, herrschte vollkommene Stille im Raum. Schließlich seufzte Carlos Sanchez Garcia leise und fragte: »Was ich nicht verstehe, warum er nicht rechtskräftig verurteilt wurde?«
Ralf Wegner sah ihn traurig an, ehe er bitter sagte: »Anzeigen wurden zurückgezogen, Augenzeugen konnten sich an nichts mehr erinnern und die Ehefrau hat ausgesagt, dass ihr Mann zum Tatzeitpunkt bei ihr gewesen war.«
»Was vermuten Sie, was hinter den Kulissen passiert war?«
»Um es ganz klar vorwegzusagen, das ist jetzt meine persönliche Meinung und keine offizielle Aussage des BKA.«
»Okay.«
»Ich nehme an, dass im Hintergrund Schweigegeld in beträchtlichem Umfang an die Opferfamilien geflossen war und dass die Ehefrau Falschaussagen vor Gericht getätigt hat.«
»War der Frau überhaupt bewusst, dass dieses Verhalten strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen konnte?«
»Ja, aber nur, wenn man ihr die Lügen eindeutig nachweist und eben das hat leider nicht geklappt.«
»Gab es gegen Neumann noch weitere Vorwürfe wegen Pädophilie? Ich denke da speziell an die DDR.«
Der BKA-Beamte schüttelte bedauernd den Kopf. »Darüber liegen uns derzeit keine Erkenntnisse vor. Ich habe deshalb meine Kollegen in Deutschland gebeten, die Nachforschungen in dieser Frage zu intensivieren. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass Neumann auch vor der Wende aktiv war, denn pädophile Neigungen kommen ja nicht plötzlich von heute auf morgen, sondern zeigen sich sehr häufig bereits im Teenageralter.«
»Danke für die ausführlichen Erläuterungen, Ralf«, meinte Carlos anerkennend zu seinem deutschen Kollegen.
Der Angesprochene unterbrach ihn lächelnd: »Eins noch. Die gesamten Ermittlungsergebnisse werden Ihnen allen bis heute Nachmittag, komplett in spanisch übersetzt, zur Verfügung gestellt.«
12.30 Uhr, nördliche Einfahrt zur Las Canadas
Das laute Brummen des Autos, das derzeit die steilen Serpentinen der Bergflanke hochfuhr, war bereits seit langer Zeit zu hören. Schließlich hatte das Auto die letzte Kurve passiert und kam vor der rot/weiß gestrichene Schranke, die die Fahrbahn auf der ganzen Breite absperrte, zum Stehen. Einer der beiden Nationalpark-Ranger, die für die Überwachung des Verbotes zuständig waren, löste sich aus dem Schatten der tiefhängenden Lorbeerbäume und ging langsamen Schrittes zum blau lackierten VW Golf hinüber. Der Fahrer hatte mittlerweile das Seitenfenster heruntergelassen und schnauzte ihn in akzentfreiem Spanisch an: »Warum ist die Straße gesperrt, verdammt noch mal?«
»Aus Sicherheitsgründen, Señor.«
»Wer hat das veranlasst?«
»Die Sperre der Las Canadas wurde von der Inselregierung angewiesen?«
»Und seit wann?«
»13.00 Uhr, Señor.«
Der Fahrer lachte laut los und schüttelte den Kopf. Dann meinte er süffisant: »Sie benötigen unbedingt eine neue Uhr!«
»Warum, wenn ich fragen darf?«
»Wollen sie mich auf den Arm nehmen?«
Der erfahrene Ranger schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht.«
»Oh doch, es sind noch 30 Minuten hin bis zum Verbot. Also geben Sie sofort den Weg frei. Ich habe es eilig.«
Sein Gegenüber lief langsam rot im Gesicht an. Es war bisher sehr selten vorgekommen, dass er angeschnauzt wurde. Um die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen, meinte er schließlich: »Aber nur auf Ihre eigene Gefahr, Señor! Ich informiere meine Kollegen am südlichen Ausgang, dass sie unterwegs sind.«
»Machen Sie doch, was Sie wollen. Ich muss jetzt weiterfahren«, erklärte er wütend und fuhr das Seitenfenster wieder hoch.
Der Ranger rief seinem Kollegen etwas kopfschüttelnd zu. Wenig später öffnete sich die Schranke, der Fahrer gab sofort Gas und der Wagen raste mit aufheulendem Motor davon.
Die beiden Wachposten blickten irritiert hinterher, bis er hinter der nächsten Kurve verschwunden war.
»Was war denn mit dem eben los?«
»Keiner Ahnung, aber wie der aufgetreten ist, hatte er für mich nicht mehr alle Latten am Zaun.«
»Merkwürdiger Typ.«
»Na ja, letztlich hatte er jedoch recht, denn noch gilt das Verbot nicht.«
»Ja, man kann das aber auch netter sagen«, erklärte der andere Ranger und ließ die Schranke wieder herunter. »Wir stehen ja hier nicht aus Langeweile.«
»Ach, beruhige dich. Er hat seinen Willen bekommen und wir haben unsere Ruhe.« Dann griff er zum Handy, um die Kollegen am südlichen Ausgang über die baldige Ankunft des blauen VW zu informieren.
Vorbote
18.03 Uhr, innerhalb der Las Canadas
Der gecharterte Hubschrauber, der direkt vom Flughafen ›Tenerife Sur‹ gestartet war, hatte die steil aufragenden Bergwände überflogen und steuerte nun mit hoher Geschwindigkeit den mittleren Teil der Caldera an. Mitten in der Einöde der vulkanischen Ablagerungen, Magmakuppeln und Lavafeldern befand sich das Hotel ›Parador de Las Cañadas del Teide‹ mit angeschlossenem Restaurant, das weit und breit die einzige Unterkunft war. Für die beiden Geologen des IGN, die als Passagiere in der Maschine saßen, war die Herberge der ideale Ausgangspunkt für die zahlreichen Untersuchungen, die sie in den darauffolgenden Tagen zu bewältigen hatten.
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