Ehe sie die aufsteigende Panik aber vollends in den Griff bekommen konnte, zwang sie wieder etwas ruhiger zu werden und entschloss sich nachzuschauen, wer unbefugt in das Haus ihrer Großmutter eingedrungen war.
Als Clarissa nun langsam und vorsichtig in das Wohnzimmer schlich, um von dort aus einen Blick in den Flur zu werfen, sah sie zur ihrer Überraschung an dieser Stelle keine Einbrecher, sondern drei Halbwesen aus dem dunklen Reich und ihre Verfolgerin von gestern zusammenstehen und leise miteinander sprechen. Die Fremde war scheinbar die Anführerin der Gruppe und gab den dunklen Kreaturen in einer fremdartigen Sprache irgendwelche Befehle. Dabei deutete sie in verschiedene Richtungen. Es hatte für Clarissa den Anschein, dass die Eindringlinge über den dunklen Spiegel in das Haus ihrer Großmutter eingedrungen und jetzt auf der Suche nach ihr waren.
Nun wollte sich ein großes Angstgefühl in ihr breit machen, das sie zu lähmen drohte. Was hatten diese Wesen mit ihr vor? Gab es für sie noch eine Möglichkeit zu entkommen? Clarissa ging gedanklich ihre Fluchtmöglichkeiten durch und die sahen nicht besonders gut aus. Die Fremde schien im Flur stehen bleiben zu wollen, während ihre Helfer nach und nach das Haus durchsuchten. Das bedeutete, dass eine Flucht durch die Haustür nicht ohne weiteres möglich war. Höchstens Clarissa vertraute auf ihren gut durchtrainierten Körper. Das hieß, sie rannte in den Flur, überwältigte die Fremde, ehe sie ihre Helfer rufen konnte, und floh aus der Haustür auf die Straße und rief dort um Hilfe.
Auch eine zweite Fluchtmöglichkeit fiel ihr noch ein. Es gab auf der Rückseite des Hauses eine Terrassentür, die in einen kleinen Garten führte, aber die Terrassentür war immer abgeschlossen und Clarissa hatte den Schlüssel nicht einstecken, sondern der lag in einer Schublade in der Küche. Also musste sie zurück in die Küche gehen, sich dort den Schlüssel holen und dann wieder ins Wohnzimmer zurückkehren, die Tür aufzuschließen und daraufhin in den Garten zu fliehen. Der war allerdings hoch umzäunt.
Die letzte Möglichkeit war, sich irgendwo im Haus zu verstecken und zu hoffen, dass die Halbwesen sie nicht finden würden. Sehr unwahrscheinlich und daher die schlechteste aller Lösungen. Die wenigen Sekunden die ihr jetzt noch zur Verfügung standen, ehe sie zwingend eine Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen treffen musste, nutzte sie, um Devius eine kurze Nachricht zu senden. Dann hatte sie einen Entschluss gefasst und lief so schnell sie konnte auf die Fremde zu, um dann zu versuchen, sie zur Seite zu stoßen. Die Fremde bemerkte sie anfangs nicht und es sah ganz so aus, als ob ihr Plan gelingen könnte. Kurz bevor sie die Fremde erreichen konnte, kam allerdings plötzlich eines der Halbwesen zurück in den Flur und stand Clarissa damit im Weg. Es gelang ihr zwar noch, sich unter den gewaltigen Klauen des Halbwesens wegzuducken, sie war aber dadurch so abgelenkt, dass sie nicht mehr auf die Fremde achtete. Diese nutzte den Moment der Unachtsamkeit von Clarissa aus, um ihr ihre Hand auf die Schulter zu legen und bei Clarissa mit Hilfe eines dunklen Zaubers eine kurze Ohnmacht auszulösen. Auch wenn dieser Schwächeanfall nur wenige Momente dauerte, reichte das den Kreaturen aus, sie zu fesseln und damit wehrlos zu machen.
Nachdem Clarissa nach einem kurzen Augenblick wieder erwachte, war sie an Händen und Füßen gefesselt und lag wie ein Kartoffelsack auf der Schulter des größten der Halbwesen, einer Mischung aus Mensch und Stier. Diesem riesigen Wesen schien es überhaupt keine Mühe zu bereiten, ihr Gewicht zu tragen. Als Clarissa nun etwas ihren Kopf drehte, sah sie, dass die kleine Gruppe direkt vor dem dunklen Spiegel stand. Dann führte die Anführerin eine Beschwörung aus, worauf der Spiegel anfing, blau zu schimmern, und durchlässig wurde. Einer nach dem anderen schritten die Halbwesen und die Fremde jetzt durch den Spiegel. Als letzte dann schließlich ihr Träger und sie.
Wie Devius ihr schon beschrieben hatte, wurde sie beim Eindringen in den Spiegel von einer Welle des Schmerzes erfasst, als ob sämtliche Moleküle ihres Körpers plötzlich auseinander gerissen wurden, um dann kurz darauf wieder zusammen gesetzt zu werden. Zum Glück dauerte dieses Schmerzempfinden nicht allzu lange an, obwohl es ihr trotzdem fast wie eine kleine Ewigkeit vorkam.
Während sie auf der anderen Seite des Spiegels eintrafen, wurde die Gruppe von zwei grimmig aussehenden Wächtern begrüßt. Der eine Wächter sah so aus, wie man sich einen mutierten Werwolf vorstellen würde, mit übergroßen Fangzähnen und kleinen gelben blutunterlaufenen Augen. Der andere Wächter ähnelte eher einem kleingewachsenen Zyklopen mit nur einem großen Auge auf der Stirn und riesigen muskulösen Händen und Füßen. Sobald der wolfsähnliche Wächter Clarissa zu Gesicht bekam, begann er auch schon hungrig zu knurren und lief ihm sichtbar der Speichel im Maul zusammen und auch daraus hervor.
Als Clarissa das sah, musste sie angewidert wegschauen, um sich nicht vor Ekel übergeben zu müssen. Die Halbwesen bemerkten die Reaktion von Clarissa und fingen daraufhin an, verächtlich zu lachen und sich über sie lustig zu machen. Dadurch wurde der jungen Frau erst wirklich bewusst, wo sie hier eigentlich war. Sie befand sich im dunklen Reich und dazu noch in der Gewalt dieser widerlichen Kreaturen. Wenn nicht ein Wunder geschah, hatte sie kaum die Hoffnung, jemals wieder ihre eigene Welt wiederzusehen. Als sie daran dachte, musste sie sich sehr stark zusammenreißen, um nicht völlig zu verzweifeln und einfach los zu weinen. Nein, diesen Triumph wollte sie den Halbwesen nicht gönnen. Sie würde stark sein und einen Ausweg finden. Das war sie sich selbst schuldig. Irgendeine Fluchtmöglichkeit würde sich schon für sie ergeben. Das musste einfach so sein.
Nachdem die Gruppe den Schrein der dunklen Mächte verlassen hatte, gingen sie in der düsteren Kälte des dunklen Reiches einen kleinen Pfad entlang, der sie schließlich zu einem breiten schnell strömenden Fluss führte. Während sie dem Verlauf des Flusses folgten, sah Clarissa immer wieder eine große schwarze Rückenflosse in dem Fluss auftauchen, die dann wieder längere Zeit in der finsteren Tiefe verschwand. Nachdem sie schätzungsweise eine halbe Stunde am Fluss entlang gegangen waren, kamen ihre Häscher und sie zu einem imposanten Gebäude, das auf einer Insel mitten im Fluss stand und wie ein altertümliches Gefängnis aussah.
Soweit Clarissa erkennen konnte, waren alle Türen und Fenster des Hauses vergittert und wenn man genau hinhörte, konnte man trotz dem Rauschen des Flusses schon aus großer Entfernung die Schreie der gequälten Gefangenen hören. Um zu dem Gebäude zu gelangen, musste die Gruppe eine kleine Steinbrücke überqueren. Je näher sie dem Gefängnis kamen, desto lauter wurden die teils unmenschlichen Schreie, die aus den Fenstern drangen. Dorthin brachten Sie also Clarissa. Das war das Ziel ihres Weges. Was hatten sie nun mit ihr vor? Würden sie sie langsam und qualvoll töten? Oder wollten die Halbwesen ihre dunklen Foltermethoden bei ihr anwenden und sie damit zum Reden bringen? Sie wusste es nicht, aber sie wusste, dass egal was geschehen würde, sie sich auf jeden Fall nicht ohne Widerstand ihrem Schicksal ergeben würde. Nein, zu keiner Zeit.
13. Kapitel
Als Devius zusammen mit Clarissa zur Praxis von Silvia Adler ging, war er sehr froh, dass sie ihn dorthin begleitete. Er empfand schon seit ihrer ersten Begegnung eine so tiefe Vertrautheit zu ihr, wie er sie bisher noch gegenüber keinem anderen Menschen gefühlt hatte. Selbst wenn sie traurig waren, war er vom Blick ihrer Augen jedes Mal erneut überwältigt und ihr Lächeln ließ ihn vor Verzückung eine Handbreit über dem Boden schweben. Aber obwohl ihm das sehr schwerfiel, durfte er sich dadurch nicht von den dringlichen Aufgaben, die vor ihm lagen, ablenken lassen.
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