Als er der Meinung war, dass seine Kondition gut genug sein und er nicht gleich beim ersten Treffer umfallen würde ging er wieder zum Sportlehrer. Der musterte ihn von oben bis unten, Fred hatte schon Sportkleidung an, und nickte dann wortlos. Im Trainingsraum roch es nach kaltem Schweiß und dreckigen Socken, es störte ihn nicht. Der Trainer wies ihn an, den Sandsack zu bearbeiten und als er damit begann, beobachtete er den Jungen aufmerksam. Er hatte sich durch den schmächtigen Körperbau nicht täuschen lassen, seine lange Arme und Beine wiesen für einen Boxer günstige Körperverhältnisse auf. Tänzelnd drosch Fred Beyer auf den Sandsack ein, noch ungelenk aber ohne außer Atem zu kommen, das Konditionstraining hatte sich gelohnt. Der Trainer ließ ihn eine Weile gewähren und sagte dann nur: „Stopp.“
Fred stand vor ihm, sein Atem ging ruhig und kein Schweißtropfen war zu sehen.
„Na ja, für den Anfang gar nicht übel“ sagte der Mann.
„Wenn du willst, kannst du mitmachen. Aber merke dir: hier wird Disziplin verlangt. Wir trainieren jeden Dienstag und Donnerstag. Als Entschuldigung gilt nur Krankheit oder Tod, verstanden?“
Fred Beyer nickte ein Verstanden und verschwand in den Duschraum.
Ein euphorisches Gefühl durchdrang ihn, auf dem Heimweg hüpfte er ausgelassen ab und an in die Höhe.
Hermann Weber war ein Mann mit Grundsätzen, das Abendbrot musste Punkt 19 Uhr auf dem Tisch stehen, seine Frau würde ihm ein temperiertes Bier auf den Tisch stellen und während des Essen hatte Stille zu herrschen. Danach erwartete er Bericht seines Sohnes über den Tag in der Schule, war der ihm nicht ausreichend fragte er unerbittlich nach, so dass Günther Weber nicht anders konnte, als alles zu erzählen.
„Ich habe heute die Verpflichtung zur Waffen-SS unterschrieben“ fing er an, der Blick seines Vaters wurde wach.
Hermann Weber war Weltkriegs 1 Offizier, von jeher hatte er seinen Sohn für das Militärische begeistern wollen, es war ihm scheinbar gelungen. Gut, dass er sich zur SS gemeldet hatte war nicht nach seinem Geschmack, die Leute schienen ihm zu laut und zu gewöhnlich. Auf der anderen Seite hatte es die Propaganda verstanden, ein verklärtes Bild von dieser Truppe als Elite zu zeichnen. Besser sein Sohn würde gut ausgebildet und ausgerüstet sein wenn es losging. Er selbst hatte vor Verdun monatelang in den Gräben gelegen und der Stellungskrieg verwandelte die Gegend in eine apokalyptische Landschaft. Das Grauen der Nahkämpfe, Mann gegen Mann mit Bajonett, Messer oder Spaten versuchte er zu verdrängen. Mit niemandem hatte er nach dem Krieg darüber gesprochen und wenn seine Narbe im Rücken schmerzte wurde er immer wieder daran erinnert, dass ein Franzose ihn fast mit dem Bajonett durchbohrt hätte, einer seiner Kameraden erschoss ihn mit einem Revolver kurz bevor er den Stoß richtig führen konnte. Die Verwundung war leicht und er blieb bei seiner Kompanie, jeder Mann zählte, tägliche fielen Dutzende. Als Deutschland kapitulierte empfand er tiefe Schmach, vier Jahre stand er im Feld und diente seinem Land, zuletzt als Oberleutnant. Er fühlte sich um diese Zeit betrogen und machte die Soldatenräte dafür verantwortlich, die der Front in den Rücken fielen. Entwurzelt schloss er sich dem Freikorps an und seine Mission war, die Bolschewiken im eigenen Land zu bekämpfen, späte Rache für die Niederlage auf dem Feld. In einer der häufigen Schießereien mit den Roten traf ihn eine Kugel in das linke Knie, nach der Operation blieb es steif, seitdem bewegte er sich nur noch hinkend. Seine Kameraden ermöglichten ihm die Arbeit im Büro einer Textilfabrik, als Bürovorsteher thronte er auf einem Podest vor den an Schreibmaschinen sitzenden Frauen. Männer waren knapp, zwei Millionen kamen von den Schlachtfeldern nicht wieder, er sah recht ordentlich aus und seine Manieren besserten sich nach und nach, er kam langsam wieder im Leben an. Dennoch konnte er die gewohnte Disziplin und Ordnung nicht ablegen und wenn er sprach geschah dies immer noch im Befehlston.
Zunächst rein aus der Überlegung, zu zweit besser durch die unsicheren Zeiten zu kommen, interessierte er sich vorsichtig für die jungen Frauen. Eine sprach ihn mit ihrem Aussehen an, sie war klein, schlank, ihre Strumpfhose betonte schöne Beine und die Bluse war ordentlich gefüllt. Wie zufällig war er jetzt öfter an ihrem Arbeitsplatz und schaute ihr über die Schulter. Er wusste, dass ihr Mann in Belgien gefallen war, sie war Mitte Zwanzig und lebte allein in einer winzigen Wohnung. Häufig war sie die letzte der Frauen im Büro, er ahnte, dass sie damit der Einsamkeit zu Hause entgehen wollte, ihm ging es ähnlich, denn allein in einem Restaurant zu sitzen war seine Sache auch nicht. Obwohl er ein mutiger Mann war brauchte er mehrere Wochen bis er sie fragte, ob sie mit ihm Abendessen gehen wollte, es wäre eine Einladung. Ihr Gesicht drückte Erstaunen aus aber sie stimmte zu und zwei Tage später saßen sie in einem gemütlichen Lokal zusammen. Überrascht stellte er fest, dass sie gemeinsame Vorlieben etwa für Musik hatten, er brachte sie nach Hause und beschwingt erreichte er seine Wohnung. Nach all den dunklen Jahren spürte er wieder Optimismus aufkommen und musste sich eingestehen, dass er sich lange nicht mehr so gut gefühlt hatte. Sein Verdienst war nicht schlecht und es wurde zur Gewohnheit, wöchentlich einen Abend zusammen zu verbringen, als er sie eines Tages vor ihrem Haus küssen wollte wehrte sie sich nicht.
„Danke, das war ein schöner Abend mit dir“ sagte sie ihm und er registrierte verblüfft wie selbstverständlich sie zum „du“ übergegangen war. Nach zwei weiteren Wochen kam sie das erste Mal mit in seine Wohnung. Im Krieg war er ein paar Mal im Bordell gewesen, es war reine Triebabfuhr, ansonsten widerte ihn die ganze Atmosphäre an und danach fühlte er sich irgendwie schmutzig. Beide waren ausgehungert nach Zärtlichkeit und in dieser Nacht schliefen sie das erste Mal miteinander. Entgegen seiner scheinbar groben Art war er sehr behutsam und ihre Lustschreie zeigten ihm, dass er sie gut befriedigt hatte. Er war wieder einen Schritt im Leben vorangekommen, er konnte noch ehrlich lieben.
Früh war sie vor ihm aufgestanden, sie wollten nicht zur gleichen Zeit im Büro ankommen und ohnehin würde er dafür sorgen dass sie woanders eine Anstellung bekam, seine Kameraden des Korps würden da helfen. Nach zwei Monaten zog sie bei ihm ein, plötzlich war vieles anders und mit Verwunderung nahm er zur Kenntnis, dass das Grobschlächtige nach und nach von ihm abfiel und er weicher wurde. Die erste Zeit war rauschhaft, manchen Sonntag kamen sie gar nicht aus dem Bett heraus und er fühlte sich einerseits geborgen, auf der anderen Seite wollte er seine Frau beschützen. Nach einem dreiviertel Jahr heiraten sie, ein Kind war unterwegs.
Die Stadt, in der er lebte, zählte gerade einmal knapp 8.000 Einwohner, deswegen war der Box Klub auch der einzige in dem Ort.
Das harte und ausdauernde Training zahlte sich langsam aus. Fred Beyer hatte im letzten halben Jahr zwar nicht an Körpergröße, aber sehr wohl an Muskelmasse zugelegt. Sein Trainer beobachtete den jungen Mann aufmerksam und attestierte ihm Talent. Ein halbes Jahr, nachdem er mit dem Training begonnen hatte, fand sein erster Kampf statt. Aufregung verspürte er nicht, er war sich seiner Mittel ziemlich sicher und selbst wenn er verlieren sollte würde es eine erste Erfahrung gewesen sein. Die kleine Halle war ordentlich gefüllt, es waren ungefähr 100 Zuschauer gekommen. Sein Gegner im Weltergewicht war einen Kopf größer als er und hatte deutlich längere Arme. So gesehen musste er sich eine Taktik zurecht legen, die ihn nicht ständig in die Reichweite der Fäuste des anderen brachte. Da er schnell merkte, dass er beweglicher als der andere war, umtänzelte er seinen Gegner und konnte so einige Treffer anbringen. Selbst musste er aber auch Einiges einstecken und ein gut platzierter Schlag auf sein linkes Auge ließ dieses schnell zu schwellen. Fred Beyer änderte seine Taktik aber nicht, nur wenn er sich den Angriffen des anderen geschickt entzog könnte er selbst dessen Deckung durchbrechen und Treffer anbringen. Seine Rechnung schien aufzugehen, denn der andere Mann hatte offensichtlich Konditionsprobleme und seine Meidbewegungen wurden schwerfälliger. Als Beyer einen Leberhaken landete geriet der andere Mann ins Taumeln und der dann folgende Kinnhaken schleuderte ihn in die Seile des Rings. Noch war aber nichts entschieden, denn Beyers Gegner fing sich schnell wieder und griff ihn jetzt ungestüm an. Eine feine Klinge schlug er nicht, aber seine Angriffe hatten Wucht. Nach der dritten Runde merkte Fred Beyer, dass sein Widersacher seinen schnellen Ausweichmanövern nicht mehr folgen konnte und er ermüdete ihn mit Treffern auf verschiedene Körperregionen. Ein Wirkung zeigender Schlag gelang ihm aber nicht und es sah so aus, als würde der Kampf bis zur letzten Runde erforderlich sein. Immer wieder die Position wechselnd brachte er jetzt regelmäßig Treffer an und es schien, als wäre er nach Punkten klar vorn. Dass schien auch der Trainer seines Gegners so zu sehen, denn sein Schützling stürmte nach der nächsten Pause auf Beyer zu, er suchte eine vorzeitige Entscheidung. Da er seine Deckung jetzt vernachlässigte prasselten Beyers Schläge fortlaufend auf ihn ein und in einem unkonzentrierten Moment öffnete der Gegner den Schutz vor seinem Körper. Auf diesen Augenblick hatte Beyer gewartet und setzte zu einem Kinnhaken an, den er perfekt anbrachte. Der andere blieb noch einen Moment auf den Beinen, ging dann aber zu Boden. Der Ringrichter zählte ihn an, aber der Mann kam nicht wieder hoch. Fred Beyer hatte seinen ersten Kampf gewonnen.
Читать дальше