Gwenaëlle
Der Sehnsucht verfallen
Gwenaëlle
Der Sehnsucht verfallen
Thomas Riedel
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2. Auflage (überarbeitet)
Covergestaltung:
© 2018 Thomas Riedel
Coverfoto:
© 2018 Majorgaine
Depositphotos.com, ID: 48640719
ImpressumCopyright: © 2019 Thomas Riedel Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de ISBN siehe letzte Seite des Buchblocks
»Ein Mann, der seine Frau liebt,
achtet nicht auf ihr Kleid,
sondern auf seine Frau.
Fängt er an,
auf ihre Kleidung zu achten,
hat seine Liebe schon nachgelassen.«
Henry Miller
(1891-1980)
1
D
urch das geöffnete Fenster drang der Duft der blühenden Linde, deren Äste fast in das Zimmer hineinreichten, und ein leichter Wind blähte die zarten weißen Baumwollgardinen. Die einfach eingerichtete Wohnstube atmete eine behagliche Ruhe, und man hätte annehmen sollen, dass sich diese heitere Gelassenheit auch auf die Stimmung der Menschen darin auswirken müsse. Doch das war keineswegs der Fall.
Gwenaëlle, hob ihr verweintes Gesicht und starrte vor sich. »Ach, Mom! … Warum bist du nur so früh gestorben und hast mich auf dieser Welt allein zurückgelassen?!« Sie hatte diese verzweifelten Worte laut vor sind hingesprochen, und ein neuer Strom an Tränen bahnte sich seinen Weg aus ihren Augen über die Wangen, während sie leise klagend vor sich hin schluchzte: »Ich wollte, … ich wäre auch tot und bei dir.«
»So etwas solltest du wirklich nicht sagen, Gwenaëlle!«, entgegnete ihre alte Lehrerin, Miss Abernathy, energisch. »Ich verstehe ja nur zu gut, dass du traurig bist, und ganz gewiss, hat es das Schicksal nicht gut mit dir gemeint, aber glaube mir, keinem Menschen bleiben Schmerzen und Kummer erspart. Auch du musst dir Mühe geben, damit fertig zu werden … Denk doch daran, wie sehr deine Mutter in den letzten Monaten gelitten hat, und gönne ihr die Ruhe«, fügte sie dann mit weicher Stimme hinzu.
»Ja, ja, das ich tue ich auch, ganz bestimmt«, erwiderte sie, noch immer von Schluchzen unterbrochen. »Aber das ich nun auch noch nach › Castle Ballantyne ‹ gehen soll …«
»Du darfst den Mut nicht verlieren, mein liebes Kind. Vielleicht gefällt es dir dort besser, als du jetzt denkst«, meinte Miss Abernathy, die ihr gegenübersaß und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Aber sie sah an Gwenaëlles Ausdruck, dass sie dieser Trost nicht wirklich überzeugte, denn sie schüttelte ablehnend den Kopf und antwortete nicht.
Für eine Weile blieb es in dem kleinen freundlichen Raum still.
Die weißhaarige Miss Rowina Abernathy machte weiter einen ganzen zufriedenen Eindruck. In aufrechter Haltung saß sie auf dem kleinen Sofa, und ihre immer noch flinken Hände beschäftigten sich eifrig mit einer hauchdünnen Stickerei. Über die Ränder ihrer Sehhilfe warf sie forschende Blicke auf Gwenaëlle, die immer noch stumm vor sich hinstarrte. Schmal und zart wirkte sie in ihrem schlichten, hochgeschlossenen Trauerkleid, und ihr blasses Gesicht mit den großen, durch Tränen verdunkelten Augen verriet ihr frühes Leid. Ihre wundervollen schulterlangen Locken, auf die gerade die Sonne fiel, sahen aus wie gesponnenes rötliches Gold.
»Komm, schenk uns noch einmal ein, meine Liebe«, unterbrach Miss Abernathy die Stille, »und dann nimm dir etwas von dem Kuchen. Ich habe ihn extra für dich gebacken und bin ganz gespannt, ob er dir schmeckt.«
Ihrer Aufforderung folgend, griff Gwenaëlle nach der Teekanne und füllte die beiden Tassen. Sie legte sich ein Stück auf den Teller, machte aber keine Anstalten, davon zu essen.
Miss Abernathy bemerkte es aus den Augenwinkeln, aber sie verlor kein Wort darüber. Stattdessen versuchte sie, das junge Mädchen zum Reden zu bringen. »Bist du mit deinen Reisevorbereitungen eigentlich schon fertig?«, erkundigte sie sich freundlich.
Gwenaëlle nickte kurz, doch dann kam es plötzlich wie ein Aufschrei aus ihr heraus: »Ach, wenn ich doch nur hierbleiben könnte!«
»Aber, mein Kind«, sagte Miss Abernathy tröstend, »nun sei doch vernünftig! Du weißt ja selbst, dass es nicht geht. Und du hast es auch deiner lieben Mutter versprochen, nach Ballantyne zu gehen … Sie wird schon gewusst haben, warum«, setzte sie rasch hinzu, als Gwenaëlle etwas entgegnen wollte. »Schließlich sind es doch deine einzigen Verwandten, die sich sofort bereit erklärt haben, dich aufzunehmen und für deine weitere Zukunft zu sorgen.«
»Aber all die Jahre hat sich niemand von ihnen um uns gekümmert, weil sie es meiner Mutter nicht verzeihen konnten, dass sie Vater geheiratet hat … Einen Mann, der nicht dem Adel angehörte und zudem noch Maler war. Auch nach seinem plötzlichen Tod hat sich daran nichts geändert … Und jetzt soll ich zu diesem fremden Menschen, die nichts von mir wissen und mich bestimmt nicht mögen werden …« Der kaum versiegte Strom an Tränen brach von neuem hervor und hinderte sie am Weitersprechen.
»Weine dich ruhig aus, mein Liebes«, sagte Miss Abernathy weich, »das erleichtert, und heißt es nicht, dass man alles ein wenig klarer sieht, wenn man geweint hat?«
Allmählich beruhigte sich Gwenaëlle. »Was müssen Sie von mir denken, Miss Abernathy, dass ich mich so gehen ließ …«, meinte sie entschuldigend.
Die alte Dame winkte begütigend ab. »Lass nur, mein Kind, ich verstehe sehr gut, wie dir zumute ist.« Sie blickte von ihrer Handarbeit auf. »Aber nun hör einmal zu, was ich dir jetzt sage: Du warst so viele Jahre meine Schülerin, und ich kenne dich recht genau. Darum nimm dir meinen Rat zu Herzen: Sei nicht voreingenommen gegen Menschen, die du nicht kennst! Damit machst du es dir und anderen nur unnötig schwer. Versuche einfach, deine neuen Verwandten lieb zu gewinnen, auch wenn dir manches an ihnen nicht gleich gefällt. Wenn sie sehen, dass du dir Mühe gibst, dich einzuleben, dann wirst du dich sicher gut mit ihnen verstehen und in Ballantyne eine neue Heimat finden.«
»Aber gewiss werden sie auf mich herabsehen, weil ich nur einen bürgerlichen Namen habe«, wandte Gwenaëlle zaghaft ein.
»Ach, Unsinn! Du trägst den Namen deines Vaters, der ein sehr bekannter Maler war, und du hast allen Grund, darauf stolz zu sein. Vergiss das nie! Außerdem war › Castle Ballantyne ‹ die Heimat deiner Mutter, und es ist nicht mehr als recht, dass man sich jetzt dort deiner annimmt.«
»Aber meine Tante hat gar nicht so geschrieben, als wenn ihr an mein Kommen besonders viel liegen würde.« Dabei zog sie ein gefaltetes Blatt Papier aus ihrem Retikül, und obwohl sie die wenigen Zeilen schon fast auswendig kannte, las sie den Text noch einmal halblaut vor: »Liebe Gwenaëlle! Mit Bedauern habe ich vom Tod Deiner Mutter gehört. Obwohl sie sich durch ihre Heirat ganz von unserer Familie gelöst hat, habe ich mich dennoch entschlossen, ihre letzte Bitte zu erfüllen und Dir auf › Castle Ballantyne ‹ ein Unterkommen zu gewähren. Teile Deine Ankunft möglichst rechtzeitig mit, damit ich eine Kutsche zur Bahnstation schicken kann. Es grüßt Deine Tante Waynette, Baroness of Brackenridge auf › Castle Ballantyne ‹.« Zögernd ließ sie den Brief in ihren Schoß sinken und sah ihre alte Lehrerin an.
Rowina Abernathy erwiderte zunächst nichts, denn nun war sie doch etwas erschüttert über die kalte, abweisende Art und Weise, wie die Baroness an ihre Nichte schrieb. Wenngleich Gwenaëlles Mutter nur deren Stiefschwester gewesen war, weil der gemeinsame Vater noch einmal geheiratet hatte, so hätte man doch annehmen sollen, dass sie dem jungen Mädchen, dem das Schicksal so früh beide Elternteile geraubt hatte, etwas mehr herzliche Anteilnahme entgegenbringen würde. Es wunderte sie jetzt nicht mehr, warum Gwenaëlle so ungern zu ihren neuen Verwandten wollte! Aber es hatte ja keinen Zweck, sie in dieser Abneigung zu bestärken, denn sonst würde sie sich wahrscheinlich noch schwerer in dieser für sie völlig neuen Umgebung eingewöhnen. Folglich versuchte sie, einen möglichst zuversichtlichen Ton anzuschlagen, als sie sich Gwenaëlle zuwandte. »Nun, der Brief ist sicher etwas kühl gehalten, das muss ich unumwunden eingestehen. Aber du musst auch bedenken, dass du deiner Tante völlig unbekannt bist und sie daher nicht weiß, was sie von dir zu halten hat. Es wird also viel an dir liegen, wie sich euer künftiges Verhältnis gestaltet.«
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