Charles Finch:
Im Sog des Wahnsinns
Kriminalroman
Thomas Riedel
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1. Auflage
Covergestaltung:
© 2017 Thomas Riedel
Coverfoto:
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ImpressumCopyright: © 2017 Thomas Riedel Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de ISBN siehe letzte Seite des Buchblocks
»Man sollte alles lesen.
Mehr als die Hälfte unserer heutigen Bildung
verdanken wir dem,
was wir nicht lesen sollten.«
Oscar Wilde (1854-1900)
»Wer auf Rache sinnt,
der reißt seine eigenen Wunden auf.
Sie würden heilen,
wenn er es nicht täte.«
Sir Francis Bacon
(1561-1626)
Kapitel 1
Der kleine grauhaarige Mann bahnte sich mühsam den Weg durch das Gestrüpp und trat auf die Lichtung hinaus. Er blieb stehen, sah sich aufmerksam um und lächelte süßsauer. Zum zweiten Mal sah er sich nun im Verlauf der letzten dreieinhalb Stunden an derselben Stelle, und er musste sich eingestehen, sich hoffnungslos verirrt zu haben – alle bewussten Mittel seiner Orientierung hatten versagt. Er hatte die Kontrolle verloren. Ein Gefühl des Verlorenseins und der Verunsicherung war in ihm aufgekommen.
Niedergeschlagen setzte er sich auf einen flachen Stein, bevor er seinen Fischkorb und den Rucksack in eine bequemere Lage rückte. Die Angelrute, die er, zerlegt in ihrem Futteral, mit sich führte, legte er neben sich auf das Gras. Dann bückte er sich, trank etwas Wasser aus der Quelle zu seinen Füßen und erfrischte sich anschließend damit das Gesicht. Das mehrstündige Stapfen durch das Dickicht und den unwegsamen Tannenwald hatte ihn reichlich erschöpft. Er holte sein Taschentuch hervor und wischte sich das Gesicht ab. Als er das Tuch wieder zurücksteckte, blickte er auf, und sah auf dem Felsen über sich einen jungen Mann stehen, der lässig ein Jagdgewehr in der Armbeuge hielt.
Sekundenlang saß der grauhaarige Mann regungslos da. Der Bursche auf dem Felsen hatte ihn ordentlich erschreckt, aber er ließ es sich nicht anmerken. Nachdem er sich von seiner ersten Überraschung erholt hatte, fühlte er sich sogar ein wenig erleichtert.
»Guten Tag und Waidmannsheil!«, rief er hinauf und hob die rechte Hand zum Gruß.
Der Mann mit dem Jagdgewehr war groß und schlank gewachsen – er zeigte aristokratische Züge und hatte kurzgeschorenes rötliches Haar. Sogar auf die Entfernung von zwanzig Yards fielen seine misstrauisch dreinblickenden blauen Augen auf. Er trug graue Flanellbeinkleider und einen gut geschnittenen Jagdrock, und hätte er die bedrohliche Langwaffe nicht im Arm gehabt, wäre er eine durchaus vornehme Erscheinung gewesen.
»Ich scheine mich ordentlich verirrt zu haben«, erklärte der kleine Grauhaarige jetzt heiter.
»Wer sind Sie?«, fragte der Mann auf dem Felsen mit gepresster, leicht heiserer Stimme.
»Mein Name ist Finch«, erklärte der Grauhaarige. »Offenbar habe ich alles vergessen, was man mir früher als Pfadfinder beigebracht hat, denn ich bin stundenlang im Kreis herumgelaufen.«
»Ich weiß«, gab der Mann auf dem Felsen lakonisch zurück. »Ich beobachtete Sie bereits seit geraumer Zeit.«
»Was?«, reagierte Finch erstaunt.
»Ich wollte dahinter kommen, ob Sie sich wirklich verirrt hatten, oder ob Sie nur …«
»Mein lieber Freund, soll das heißen …«
»Es schien mir, als hätten Sie sich wirklich verirrt«, fuhr der Mann auf dem Felsen fort. »Ich gab mich allerdings der stillen Hoffnung hin, Sie würden sich endlich aus diesem Teil des Waldes entfernen. Stattdessen zogen Sie immer engere Kreise. Letztlich war mir klar, dass Sie das Haus entdecken mussten, wenn Sie das nächste Mal diese Lichtung verließen.«
»Ist denn hier in der Nähe ein Haus?«
»Gerade hinter diesem kleinen Hügel.« Der junge Mann zeigte in die halbrechte Richtung.
»Und Sie ließen mich umherirren?«
»Ja.«
Finch schüttelte missbilligend den Kopf.
»Wäre ich nicht so müde, so wäre ich neugieriger. Übrigens, … möchten Sie mit ihrem Gewehr nicht in eine andere Richtung zielen? Vielleicht ist es ja nicht geladen, aber trotzdem wäre es mir …«
»Es ist geladen.«
»Darf ich Sie dann bitten?«
»Bedaure, Mr. Finch.«
»Doktor Finch. Doktor Charles Finch.«
»Mein Name ist Ryan Greenwood«, sagte der Mann auf dem Felsen. »Sie kommen jetzt mit mir zum Haus, Doktor Finch.«
Finch zuckte mit keiner Wimper, während seine grauen Augen an Greenwood hafteten.
»Ist das eine Einladung oder ein Befehl?«, fragte er ruhig.
»Bedauerlicherweise ist es ein Befehl«, erwiderte Greenwood ungerührt. »Ich hoffte ehrlich, Sie würden einen Weg aus dem Wald finden. In gut einer Stunde wird im Haus Licht gemacht werden, und dann hätten Sie uns entdeckt.«
»Uns?«, wiederholte Finch.
»Meine Gäste und mich.«
»Gäste? Sind die auch auf Ihren Befehl hier, Mr. Greenwood?«
»Ja«
»Ich verstehe.« Finch ließ seine Augen von Greenwood zum Jagdgewehr wandern. »Werden Sie dieses Ding wirklich benutzen, wenn ich mich weigere?«
»Ja.«
»Das habe ich mir gedacht«, erwiderte Finch. »Sie müssen große Angst haben und stehen unter Druck, Mr. Greenwood.«
»Angst, wieso?«
»Nun, … ein kräftiger junger Mann, wie Sie einer sind, braucht kaum ein derartiges Drohmittel, wenn er es mit einem alten Kauz wie mir zu tun hat. Wie könnte ich Ihnen überhaupt schaden?«
»Indem Sie etwas sehen, das nicht für Ihre Augen bestimmt ist«, erklärte Greenwood, »und es nach Ihrer Rückkehr in die Stadt erzählen. Sie werden verstehen, dass ich es darauf nicht ankommen lassen konnte.« Er machte eine auffordernde Bewegung mit dem Gewehr. »Gehen wir!«
»Wie Sie meinen, Mr. Greenwood«, fügte sich Finch. »Dann zeigen Sie mir mal den Weg.«
»Dort … hinter der Tanne ist ein Pfad«, erklärte Greenwood. »Ich werde Ihnen folgen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Finch ergriff seine Angelrute und erhob sich. Es fiel ihm schwer, sich zu bewegen, da sich seine müden Muskeln in der kurzen Ruhepause versteift hatten. Während er den Hang hinaufstieg, blieben seine Augen ununterbrochen auf Greenwood und sein Gewehr gerichtet – sie verrieten keine Angst, nur große Neugier.
Greenwood wies ihm mit einer Hand den Weg. Knapp zwanzig Yards hinter der hohen Tanne befand sich Finch auf offenem Gelände. Leicht verdutzt blieb er stehen. Er sah einen See vor sich, der gut und gern drei Quadratmeilen groß sein mochte. Und dort war ein Haus, ein geräumiges Steingebäude mit breiter Veranda, die sich auf zwei Seiten in der ganzen Länge hinzog. Beim Abfluss des Sees befand sich ein Damm, auf dem ein kleines steinernes Häuschen stand, in dem Finch für einen Generator vermutete, weil es durch Leitungsdrähte mit dem Wohnhaus verbunden war. Hinter dem Wohnhaus gewahrte er eine offene Remise, in der zwei Kutschen standen. Von den dazugehörigen Pferden war nichts zu sehen. Er schüttelte leicht den Kopf. Den ganzen Nachmittag war er kaum hundert Yards von diesem Ort entfernt gewesen, aber nie hatte er die Richtung eingeschlagen, die ihn hierher geführt hätte.
»Bitte weiter!«, befahl Greenwood hinter ihm. »Gehen Sie die Treppe zur Veranda hinauf, und öffnen Sie die Haustür.«
Auf der Freitreppe blieb Finch abermals kurz stehen. Zu beiden Seiten der Haustür gab es große Fenster mit Blick auf den See. An jedem Fenster bemerkte er Gesichter, die ihn fragend anstarrten. Als sie merkten, dass er sie gesehen hatte, zogen sie sich zurück. Es waren angsterfüllte, angespannte Gesichter gewesen.
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