»Ja. Meine Mutter hat früher auf dem Anwesen gelebt, … Baroness Tempest of Brackenridge.«
»Sie wohnten also bisher im Süden.«
»Ja, in Newcraighall, bei Edinburgh.«
»Dachte ich mir schon. Man hört es an Ihrem Akzent.«
Der Zug ratterte über eine Brücke, und unter ihnen breitete sich ein Fluss aus. Gwenaëlle sah kleine, geschäftige Boote und reizende Häuser mit Gärten, die bis ans Wasser gingen. »Ich bin vorhin mit dem Zug aus Edinburgh gekommen und musste in Inverness umsteigen.«
»Das ist eine lange Reise, aber immer noch besser, als mit einer Droschke zu fahren. Außerdem ist es weit weniger gefährlich. Mit einer Kutsche zu reisen, das ist Gott versuchen, sage ich immer. Mein Mann traut sich so eine holprige, beschwerliche Fahrt gar nicht mehr zu. Aber er war noch nie dafür die Gegend wirklich zu verlassen. Das gehört wohl zu seinem Beruf.«
Gwenaëlle lächelte. »Was arbeitet er denn?«
»Er ist Schäfer. Hat fast nur seine Tiere im Kopf. Hoffentlich hat er nicht vergessen, dass er mich vom Bahnsteig abholen soll. Ich habe ihm einen Zettel über den Herd gehängt, damit er daran denkt … Aber bei ihm weiß man nie.« Sie beklagte sich nicht. Eher schien sie stolz auf die Fehler ihres Mannes zu sein, so als hoben sie ihn aus der Masse heraus. »Werden Sie abgeholt?«
»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht, hoffe es aber.« Gwenaëlle blickte aus dem Fenster. Sie waren jetzt in den Bergen und wanden sich durch eine öde Landschaft, in der es nichts gab außer abgelegenen Gehöften, Schafherden und Flüsschen, die sich durch breite grüne Täler schlängelten. Die Sonne war inzwischen höher gestiegen, und die langen Schatten waren kürzer geworden. Ihre Reisegefährtin hatte sich ein Sandwich aus dem Korb geholt und biss zierlich davon ab.
Kleine Bahnhöfe kamen und gingen, wo der Zug einen Augenblick hielt und Passagiere aus- oder zusteigen ließ. Man begrüßte sich, Hunde bellten und Gepäckträger rumpelten mit Karren voller Pakete und Koffern dahin. Niemand hatte es eilig. Es war, als hätte hier jeder alle Zeit der Welt.
So ging es weiter nach Norden, und Gwenaëlle zählte für sich die Haltestellen: noch drei, noch zwei – fast schon war sie da. Die Frau des Schäfers packte ihren Imbiss weg, wischte sich Kekskrümel vom Mantel und kramte in ihrer geräumigen Tasche nach einem Taschentuch.
Endlich kam die Station in Sicht, wo sie aussteigen musste. Schnell holte sie ihren Koffer aus dem Gepäcknetz und spähte gespannt aus dem Fenster. Ob man mich abholen wird?
Langsam und schnaufend lief der Zug auf dem kleinen Bahnsteig ein. Gwenaëlle hatte mit ihrer Reisegefährtin das Abteil verlassen, sich von ihr verabschiedet und blickte sich nun suchend um. Aber sie konnte niemand entdecken, der so aussah, als ob er auf sie wartete. Zögernd nahm sie ihren Koffer auf und ging durch die Sperre nach draußen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah sie einen jungen Mann aus einem Tabakwarengeschäft kommen.
Sie wollte gerade auf ihn zulaufen und fragen, wie sie zum › Castle Ballantyne ‹ käme, da hörte sie, wie eine kräftige männliche Stimme ihren Namen rief. Rasch drehte sie sich herum und sah sich einem älteren Mann in Kutscherlivree gegenüber.
»Sie sind ganz sicher die Nichte der Baroness of Brackenridge, die ich abholen soll?«, erkundigte er sich freundlich und setzte hinzu: »Aber natürlich, Sie müssen es sein. Das habe ich doch gleich gesehen. Sie sind Baroness Tempest ja wie aus dem Gesicht geschnitten, als sie noch ein junges Mädchen war!«
»Ach, Sie haben meine Mutter noch gekannt?«, stieß sie freudig erregt hervor und reichte dem alten Mann impulsiv die Hand. »Oh, dann müssen Sie mir recht viel von ihr erzählen, Mister …«
»George«, fiel er schnell ein, »ganz einfach George. Ja, natürlich habe ich Ihre gnädige Frau Mutter gut gekannt! Ich diene ja schon seit meiner Jugend auf › Castle Ballantyne ‹ … Aber darf ich jetzt um Ihren Koffer bitten? Ihre Ladyschaft, die Baroness, wird schon warten.«
Er verstaute das Gepäck auf der Ladefläche des Gefährts und half ihr beim Aufsteigen. Dann nahm er die Führleine in die behandschuhte Rechte, schnalzte kurz mit der Zunge, und setzte das Pferd in Trab.
Mit großen Augen sah sich Gwenaëlle um. Jetzt war sie also in der Heimat ihrer Mutter, von der ihr diese so oft erzählt hatte. Auf den breiten, kopfsteingepflasterten Bürgersteigen herrschte geschäftiges Treiben. Sie sah eine reizvolle Vielfalt an Häusern und Geschäften mit ihren Auslagen. Es folgte ein frisch gestrichener Pub, vor dessen Tür links und rechte Lorbeerbäume in Kübeln standen, ein Friseursalon mit der Aufschrift › Patricia Coiffures › und eine Weinhandlung mit Fenstern aus grünlichem Flaschenglas. Erst ging es noch ein Stück durch den Ort, dann bog George nach links ab, steuerte das Pferd durch ein Wäldchen, und dann musste schon die große Allee kommen, die zum Schloss führte. Ja, … es ist genau so, wie es meine Mutter beschrieben hat . Ein ganz eigenartiges Gefühl beschlich sie: Ihr war zumute, als sei sie gar nicht zum ersten Mal hier, sondern hätte das alles immer schon gekannt.
Ein Hund bellte, ein Vogel zwitscherte hoffnungsvoll von einem Baum herunter, als habe er sich von dem bisschen Sonnenschein vorgaukeln lassen, der Frühling sei bereits ausgebrochen.
George wagte es nicht ihre Gedanken zu unterbrechen. Er musterte sie nur ein paar Mal verstohlen von der Seite und wischte sich dann heimlich eine Träne aus den Augen. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass es so eine Ähnlichkeit geben konnte! Er vermeinte fast, Baroness Tempest säße an seiner Seite, nur, dass diese viel fröhlicher und unbekümmerter ausgeschaut hatte als dieses junge Mädchen, das sich mit so großen, ernsten Augen umsah. Doch als sein Blick auf ihr schwarzes Kleid fiel, fand er sich wieder in der Gegenwart. Natürlich, – Baroness Tempest of Brackenridge war tot, und es war ihre Tochter, die er zum Castle chauffierte. Sie sollte dort nun eine neue Heimat finden. Ach, sie würde es gewiss nicht leicht haben bei ihren neuen Verwandten. Gewiss, der Baron war ein gütiger und gerechter Mann, aber er hatte ja nichts zu sagen. Und die Baroness? – Nun, die kannte er bereits seit seiner Jugendzeit. Sie hatte immer ein kaltes, herzloses Wesen gehabt, und mit den Jahren hatte sich dieses eher verstärkt statt gemildert.
Auch von den Kindern hielt George nicht viel. Murdock war zwar gutmütig, aber leichtsinnig und war hinter jedem Rockzipfel her. Na, wenigstens war er die meiste Zeit fern von zu Hause. Wendelle genoss beim Personal die geringsten Sympathien. Sie glich in allem ihrer Mutter. Schon als Kind hatte sie eine hochfahrende, eitle Natur gehabt, und seitdem sie aus dem Internat zurück war, hielt sie es für unter ihrer Würde, mit den Hausangestellten auch nur ein freundliches Wort zu sprechen. Nur kommandieren und sich bedienen lassen, das konnte sie. Versuchte er sie mit Adjektiven zu beschreiben, dann war sie zwar durchaus elegant, aber extrem verwöhnt, eigenwillig, launenhaft, oberflächlich und verschwenderisch.
Blieb noch Valora, die Jüngste. Gewiss, sie war wild und übermütig und hatte auch ihm schon so manchen Schabernack gespielt, aber sie besaß wenigstens ein gutes Herz und war kein bisschen eingebildet. Man musste freilich mal abwarten, wie sie sich weiterentwickelte – vielleicht artete sie jedoch später noch ihren Geschwistern nach.
Jedenfalls sah George ziemlich schwarz, was das Verhältnis der Bewohner von › Castle Ballantyne ‹ zu ihrer jungen Verwandten betraf. Aber was an ihm lag, wollte er tun. Vor allem auf sie aufpassen, denn das war er ihrer Mutter schuldig.
»Das dort ist › Castle Ballantyne ‹, nicht wahr?«, weckte Gwenaëlle ihn aus seinen Betrachtungen.
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