»Seien Sie vorsichtig!«, ermahnte mich Lola und beugte sich über einen kleinen Felsvorsprung vor, während der Wind stark um uns herum wehte.
Ich sah angestrengt in die Tiefe, es war nichts zu sehen. Ich holte das Fernrohr aus der Tasche, und suchte die Gegend ab.
»Sehen Sie was?«, fragte Lola.
»Nein!«
»Dort unten, rechts!«, sagte sie. »Da ist etwas!«
Ich schwenkte mit dem Fernrohr hinüber.
»Ja, es ist aber gelb! Es kann nicht mein Hut sein! Außerdem ist es größer als ein Hut!«, kommentierte ich laut. »Vielleicht ist es ein Müllsack!«
»In Ribadés gibt es keine gelben Müllsäcke!«, schrie sie zurück. »Sehen Sie genauer hin!«
Ich hielt mit dem Fernrohr genau hin und justierte mehrmals die Schärfe ein. Da sah ich etwas Erschreckendes auf einer der vielen Klippen.
»Lola, sehen Sie selbst!«, sagte ich fassungslos und übergab ihr das Fernrohr.
» ¡Dios mío! « (Mein Gott!), rief sie entsetzt. »Es sieht aus wie ein Körper! Haben Sie die Arme gesehen?«
»Es ist ein Mensch mit gebrochenen Gliedmaßen in einem gelben Regenmantel.«
»Ja, es ist ein Mensch!«, bestätigte sie darauffolgend aufgelöst. »Wir müssen sofort runter zum Kiesstrand und nachsehen, ob er noch lebt!«
»Wir können von hier unglücklicherweise nicht hinunterklettern!«, sagte ich.
»Der kürzeste Weg ist über die Ermita und dann den Pfad hinunter zur Rückseite des Berges! Ich laufe schon los!«
»Sollten wir nicht zuerst Comisario de Vega oder Ihre Kollegen rufen?«
»Das mache ich unterwegs«, gab sie mir zur Antwort, während sie auf der Stelle loslief.
Ich sah erneut durch das Fernrohr und gewann den Eindruck, dass wohl alle Gliedmaßen dieses Körpers gebrochen waren. Es sah ganz nach einem Sturz von oben herab auf die Klippen aus. Bevor ich Lola folgte, zog ich ein Teleobjektiv aus der Tasche, das ich mir neu angeschafft hatte, setzte es auf mein iPhone und schoss einige Fotos. Dann machte ich mich auf den Weg. Als ich unten am Kiesstrand ankam, wurde es unsagbar laut. Die gewaltigen Wellen brachen an den vorgelegten Felsen. Ich spürte den feinen Nebel im Gesicht, der sich aus der Gischt bildete. Lola sah ich auf einer Klippe, die über zehn Meter hoch war. Sie näherte sich einer Nachbarklippe, von der ein regungsloser Arm über den Rand hing. Dort lag der Körper mit dem gelben Regenmantel. Nachdem ich mir das Gestein genauer angesehen hatte, folgte ich ihr. Sie sah zu mir hinunter und konnte es nicht fassen, als sie sah, wie ich zu ihr hinauf kletterte.
»Señor Lesemann, bleiben Sie unten! Es ist zu gefährlich!«, schrie sie mir entgegen.
»Ich weiß!«, antwortete ich laut zurück und stieg weiter den Felsen hinauf.
»Seien Sie bloß vorsichtig! Geben Sie Acht, dass Sie nicht abrutschen!«
»Lola, ich verstehe Ihre Führsorge, aber hier habe ich meine Kindheit verbracht, das war unser Spielplatz!«, verriet ich ihr, während ich weiterkletterte.
»Ist er tot?«, fragte ich sie, als ich etwas außer Atem oben angekommen war.
»Ja, aber er ist eine sie! «
Die Leiche im gelben Regenmantel lag auf dem Bauch. All ihre Gliedmaßen sahen vom Sturz gebrochen aus. Neben dem blutverschmierten Kopf hatte sich auf dem Gestein eine Blutlache gebildet. Ihr Gesicht war gänzlich zerschmettert.
»Sie hat sehr viele Knochenfrakturen!«, stellte Lola fest. »Beide Beine und Arme sind gebrochen!«
Es bot sich ein derart grauenvoller Anblick, dass ich wegsehen musste. Sie betrachtete die Tote etwas genauer, dann kniete sie sich neben ihr und hob mit einem Stöckchen den Regenmantel seitwärts etwas hoch.
» ¡Dios mío! «, sagte sie erschüttert, und lies den Mantel langsam wieder herunter.
»Was ist?«, fragte ich besorgt.
Sie sah mich ergriffen an.
»Diese Frau war schwanger!«
»Sind Sie sicher?«
Sie nickte zweimal.
»Sehen Sie, Señor Lesemann!«, sagte sie betrübt, während sie einen durchsichtigen Plastikbeutel aus ihrer Tasche zog. »Das lag unten an der Klippe!«
Im Beutel befand sich ein Firmenausweis. Ich konnte nicht glauben, auf wen der Ausweis ausgestellt war. Der Name lautete Ana-María Rey, die Tochter meines Freundes Mateo.
4
Ein tragischer Unfall
Welch ein schrecklicher Fund.
»Aber, das kann doch nicht die Tochter von Mateo sein!«, sagte ich fassungslos. »Sie wollte übermorgen heiraten!«
Lola sah mich traurig an und fasste mir auf die Schulter.
»Wegen ihrer Hochzeit bin ich nach Ribadés gekommen!«
»Ja, ich weiß!«
Sie streichelte mir über die Schulter, um mich zu beruhigen.
»Es muss ein ganz schlimmer Unfall gewesen sein! Kommen Sie!«, sagte sie schließlich. »Hier können wir nichts mehr tun! Lassen Sie uns wieder runterklettern!«
Lola stieg zuerst hinunter. Mir fiel allerdings ein Stück graue Kunststofffolie auf, die sich in einem Felsspalt eingeklemmt hatte. Ich nutzte die Gelegenheit und schoß einige Fotos.
Die stürmische Brandung am Kiesstrand war ohrenbetäubend und der Wind wehte die Gischt gegen die Klippen. Mit etwas Glück fand ich meinen Hut wieder, den ich sogleich aufsetzte. Der graue Himmel zog sich zu und brachte feinen Nieselregen, der vom Wind verweht wurde. An einer windgeschützten Stelle saßen wir auf einem trockenen Felsen. Lola rief den Comisario an und berichtete ihm. Dort warteten wir auf die Polizei. Ich konnte es noch immer nicht fassen.
Mit dröhnenden Schritten kam Comisario de Vega herbeigeeilt. Bei jedem Schritt schien er den Kies unter seinen Stiefeln zu zermalmen. Als er näher kam, hob er verständnislos die Arme und schüttelte dabei den Kopf. Lola stand auf.
» ¿Qué cojones paso? (Was zum Teufel ist passiert?), rief er uns laut entgegen.
»Comisario«, fing Lola an, »wie ich Ihnen am Telefon gesagt habe, haben wir die Leiche auf der Klippe gefunden«, und zeigte nach oben.
»Diego, du schon wieder?«, fragte er mich vorwurfsvoll.
»Es war reiner Zufall, dass ich ...«
»Natürlich!«, fiel er mir ins Wort. »Genau wie letztes Jahr in der Cueva . Du hast wirklich Talent.«
Ich war erneut in eine unangenehme Lage geraten. Eine Situation, in der ich derartige Funde gemacht hatte und daraufhin in die Fälle verwickelt worden war. Das war mir schon während einiger der gemeinsamen Reisen mit Hellen und in meinem früheren Berufsleben passiert.
Der Comisario wandte sich Lola zu.
»Bist du sicher, dass das Mateos Tochter ist?«
»Der Ausweis lag hier«, sagte sie. »Unterhalb der Klippe.«
»Hast du sie wiedergekannt? Du kennst sie doch.«
»Nein, ihr Gesicht ist komplett entstellt.«
» ¡Joder! «, wetterte der Comisario und setzte sich neben mir auf den Felsen. »Das ist eine Riesenscheiße!«
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