Lola drückte die Lautsprechertaste, und wir hörten Ángels aufgeregte Stimme.
»Fernando, ich habe gerade eben Ana-María Rey getroffen! Sie ist nicht tot! ¡Bendito sea Dios! « (Der Herr sei gesegnet!).
5
Die französische Touristin
Voller Erstaunen starrten wir auf das Telefon. Doch jeder reagierte verschieden.
» ¡Joder! «, wetterte der Comisario. »Warum taucht die denn plötzlich bei dir auf?«
»Ich bitte dich, nicht zu fluchen. Also, ich habe sie zufällig in der Buchhandlung getroffen. Stell dir vor, wie glücklich ich war, nach eurer Hiobsbotschaft, sie gesund und munter zu sehen«, sagte er erleichtert.
»Was für eine erfreuliche Nachricht«, bemerkte ich, während der Comisario die Hand am Kinn hielt und sichtbar grübelte. Ich hörte förmlich, wie sich die Zahnräder in seinem Hirn immer schneller drehten.
»Schön. Wenn‘s die Tochter von Mateo nicht ist, wer dann?«, fragte er angespannt.
»Aber Fernando! Wie kannst du nur so kaltherzig sein?«, warf ihm Ángel vor. »Wir sollten überglücklich darüber sein, dass es nicht Ana-María ist.«
»Jaja. Ist ja schon gut. Trotzdem hab ich ‘ne Leiche und weiß nicht wer die ist.«
»Das wirst du schon herausbekommen«, sagte er. »Bedeutend ist, dass Ana-María lebt und der Hochzeit nichts mehr im Wege steht. Übrigens, mit dem Tattoo hatte ich auch Recht, Ana-María hat keins. Ich konnte mich dessen vergewissern.«
»Danke für die Aufklärung«, sagte der Comisario kurz und knapp.
»Gern geschehen. Wir sehen uns dann vollzählig am Samstag bei der Trauung.«
Nach dieser Frohen Botschaft stellte ich fest, wie sehr wir uns von unseren Gefühlen hatten treiben lassen, und nicht intensiver nach der wahren Identität des Opfers gesucht hatten. Es wäre ein großer Fehler gewesen, Ana und Mateo eine Hiobsbotschaft zu übermitteln, die sich später als unwahr herausgestellt hätte.
»Lola, ruf Cata an, ob die schon was hat«, sagte der Comisario spontan. »Und Diego, wir sind erstmal fertig.«
Er sah mich auffordernd an und kramte beschäftigt in seinen Unterlagen.
»Viel Erfolg«, erwiderte ich etwas enttäuscht. »Wir sehen uns dann spätestens am Samstag.«
»Ja, genau.«
Während meines nachdenklichen Spaziergangs hatten sich die Wolken erneut für Regen entschieden. Beginnend mit einem gewöhnlichen Nieselregen, um nachfolgend in ein Gewitter überzugehen. Der Blitz erhellte das basaltgraue Wolkenmeer über dem Atlantik und als der Donner grollte, ließ der die Stadt beben. Dicke Tropfen trommelten anschließend auf der Hutkrempe. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig, bei Manolo einzukehren. Das rustikale Restaurant bot hervorragende regionale Speisen an. Beim Hineingehen hörte ich die angenehmen Klänge einer spanischen Gitarre, was zu einer heimischen Atmosphäre gehört. Der Wirt kam mir sogleich entgegen und begrüßte mich freundlich. Nach ein paar netten Worten bot er mir einen Tisch am Fenster an, überreichte mir die Speisekarte und gab dazu noch einige Empfehlungen. Die Karte führte Tapas , Fabada asturiana , bunte Salate, sowie Fisch- und Fleischgerichte auf. Auch verschiedene Käsespezialitäten aus der Region, die in ganz Spanien bekannt sind, fand ich darin. Zum Dessert wurden Sahnetorten, Flan , ein besonders cremiger Pudding mit Karamellsoße und mein Favorit, Arroz con leche , angepriesen. Ich bestellte einen kleinen Fischteller mit geschmorten Kartoffeln, Salat und etwas Käse sowie einen Viertelliter Rotwein. Nach Ángels froher Botschaft war mein Appetit wiedergekommen. Trotzdem grübelte ich.
Während des köstlichen Essens fiel mir ein, dass ich am Morgen Fotos geschossen hatte. Sofort legte ich das Besteck zur Seite und rief sie in meinem iPhone auf. Die Aufnahmen, die ich vom Weg hinunter auf die Klippen genommen hatte, gaben, trotz des Teleobjektivs, nicht viel her. Details waren auf dem Display des Smartphones, selbst nach Vergrößerung, nicht deutlich genug zu erkennen. Lediglich ein hellgrauer Fleck war im Hintergrund zu entdecken. So beschloss ich, sie mir später im Hotelzimmer auf dem großen Display meines MacBook anzusehen. Auf einem der Fotos, nah bei der Leiche, konnte ich das Stück graue Plastikfolie sehen, welches von der Spurensicherung gefunden worden war. Es gab somit keine Überraschungen, wie ich zunächst feststellte.
Ich nahm das Besteck wieder auf und genoss mein Essen. Nachdem ich schließlich einen köstlichen Pudding verzehrt hatte, sah ich durch das Fenster und stellte angenehm fest, dass es aufgehört hatte zu regnen. Die Wolken brachen auf, und erlaubten der Sonne, immer mehr durchzudringen. Es schien wieder trocken zu werden. Die Ungewissheit, warum diese schwangere Frau tödlich verunglückt war, ließ mir keine Ruhe. Aus irgendeinem Grund zog es mich zurück zu den Klippen. Ich trank den Wein aus, zahlte die Rechnung und verabschiedete mich von Manolo.
Wenige Minuten später war ich auf der Calle Latál unterwegs, der Straße, welche zum Kiesstrand führt. Als ich auf der rechten Seite die alte Jungenschule sah, die ich als Grundschüler besucht hatte, kamen in mir Erinnerungen an meine Kindheit auf. Damals wurde streng nach Geschlechtern getrennt, sowohl in den Klassen als auch auf dem Pausenhof, der mit einem hohen Maschendrahtzaun die Mädchen von den Jungen trennte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite und kurz vor dem Kiesstrand, kam ich an der alten herrschaftlichen Villa Latál vorbei. Sie war schon damals ein architektonisches Schmuckstück in Ribadés. Vor hundert Jahren auf einer Anhöhe erbaut, bot sie einen weitreichenden Ausblick über den Kiesstrand, auf die Klippen und auf den weiten Atlantik. Das Anwesen war mit einem tadellos gepflegten Rasen sowie hohen winterharten Palmengewächsen bepflanzt. Die große Villa, mit kunstgeschmiedeten Balkonen und hohen Fenstern und einer mittig angeordneten Terrasse demonstrierte Symmetrie und strahlte in pastellfarbenen Tönen Wärme aus. Das Besondere aber war ein angebauter quadratischer Turm, von dem sich eine weit umfassende Aussicht bot, da dieser rundherum verglast war. Wäre Hellen bei mir gewesen, hätte sie hier ein vortreffliches Motiv gefunden, um Fotos zu schießen. Von der Straße führte eine steile Treppe hinunter zum Kiesstrand.
Das weiche Toben der Wellen und die frische jodhaltige Luft ließen mich auf der obersten Stufe für einen Moment verweilen. Ich zog mir den Hut ins Gesicht und sah über den Strand hinweg auf das Meer. Als mein Blick weiter zu den Klippen schwenkte, bemerkte ich, wie sich etwas Graues fortzubewegen schien. Vor dem ebenso grauen Hintergrund war es nicht deutlich zu erkennen. Schnell zog ich das Fernrohr aus der Tasche und sah, wie ein Mann, mit einem übergestülpten grauen Müllsack, einem ausgebeulten Hut und einer Plastiktasche in der Hand, behäbig in meine Richtung hetzte. War es möglich, dass dieser Mensch etwas mit der gefundenen Leiche zu tun hatte? Ich lief rasch die Treppe hinunter auf den Kiesstrand, nur, als er mich auf sich zueilen sah, bog er ab und verschwand in den Klippen. Ich eilte ihm nach, doch von ihm war keine Spur mehr zu sehen. Er war wie vom Erdboden verschluckt, oder genauer gesagt, von den Klippen verschlungen. An jener Stelle spalteten sich die Felsen grob nach oben, und in den Spalten konnte ich nichts erkennen. Er hätte sich sonstwo verstecken können. Das Gestein war von senkrechten Schlitzen unterschiedlicher Größe durchzogen. Ebenso waren Aushöhlungen, die teils bis unterhalb des Wasserspiegels ragten, zu sehen. Ich kannte es noch sehr gut aus meiner Kindheit. Dieses Gebiet gehörte damals, so wie die prähistorische Höhle und die bewaldeten Schluchten, zu unserer natürlichen Umgebung. Dies war eine Art Abenteuerspielplatz.
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