1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Dann klappte er den Holzkasten auf. Blitzende Klingen, Instrumente mit Perlmuttgriffen. »Karl Kreutzers Pathologie-Besteck. Autopsie wie in der guten alten Zeit. Das Ding stand in einer Vitrine in der Bibliothek. – Dann wollen wir mal.«
Amendt drückte Sturmer zwei Paar Handschuhe in die Hand und bedeutete ihm wortlos, erst selbst welche überzustreifen und ihm dann zu helfen.
Er rieb die Hände gegeneinander, damit die Handschuhe an die richtige Stelle rutschten, und massierte mit dem Daumen die Innenfläche seiner linken Hand. Dann trat er an den großen Plasmabildschirm und schaltete ihn an. Mit ein paar Berührungen rief er das Formular für eine »äußere Leichenschau« auf. Er streifte sich ein Headset über, dessen Sender er unter seinem Kittel an den Hosenbund klippte.
»Diktatsystem«, erklärte er. »Funktioniert ziemlich gut.«
»Na ja«, murrte Sturmer. »Wollten die im Präsidium auch mal einführen. Bei mir hat es immer ›Dienstunfähigkeit‹ als ›Dienstuntätigkeit‹ verstanden. Oder das System war einfach sehr ironiebegabt.«
Amendt ignorierte ihn. Er diktierte die Eckdaten zu Vogel. Alter. Geschlecht. Größe. Ort, Datum und Uhrzeit des Todes. Dann tippte er in das Feld »Bericht«. Gleichzeitig poppte daneben der Umriss eines Körpers auf. »Das System fertigt sogar automatisch Skizzen an und fügt die Bilder von der Kamera ein.« Er deutete auf einen großen Fotoapparat, der an einem Schwenkarm über dem Autopsietisch befestigt war.
Schließlich trat er an den Stahltisch. »Ergebnisse der Taschenuntersuchung«, diktierte er. Dann fasste er der Reihe nach in die Jackett- und Hemdtaschen Vogels, zum Schluss in die Hosentaschen. »Nichts. Kein Tascheninhalt.«
»Was? Jeder hat doch irgendetwas in den Taschen. Brieftaschen, Schlüssel, Taschentuch, Kleingeld …«, sagte Katharina.
»Und diese undefinierbaren grauweißen Knäuel«, ergänzte Sturmer, »die vielleicht mal ein Papiertaschentuch, ein Notizzettel oder ein Geldschein gewesen sind.«
Auch Amendt trat einen Schritt zurück und überlegte. Dann atmete er durch. »Protokoll der Entkleidung der Leiche«, setzte er sein Diktat fort.
Er wies Sturmer an, Vogel behutsam auszuziehen und die einzelnen Kleidungsstücke in Plastikbeutel zu verpacken. »Krawatte, grau. Jackett, grau. Hemd, hellgrau«, diktierte er der Reihe nach. »Stiefelette, schwarz, rechts. Stiefelette, schwarz, links …«
Katharina massierte sich das Gesicht. Sie hatte fast vergessen, wie langweilig Leichenschauen im Grunde waren. Endlos viele bürokratische Schritte mit wenig Erkenntnisgewinn. Sie zwang sich, die Augen wieder zu öffnen.
»Strümpfe, schwarz, Gürtel, schwarz, Hose, hellgrau, Unterwäsche … – Holla, was ist das denn?«
Während Sturmer noch damit beschäftigt war, die Hose vorsichtig von Vogels Beinen zu streifen, hatte Amendt innegehalten. Er deutete auf den Schritt des Leichnams. Katharina stieß sich mit dem gesunden Bein ab, um sich an den Tisch zu rollen.
Der Anblick war tatsächlich … unerwartet. Vogel trug einen schwarzen, spitzenbesetzten, bestickten Seidentanga. Einen Damenslip?
Bis auf … Das kleine Stoffdreieck im Schritt des Slips war weit genug, um Vogels Penis aufzunehmen.
Amendt zog die Kamera zu sich heran und schoss ein paar Fotos.
»Fürs Poesiealbum der Perversionen?« Sturmer hatte inzwischen die Hose verpackt und war gleichfalls an den Tisch getreten.
»Nein«, erklärte Katharina, während Amendt noch fotografierte. »Die erste Abweichung vom Erwarteten.«
Unwillens, die Belehrung einfach so stehen zu lassen, knurrte Sturmer: »Wenn man mal davon absieht, dass er sich vor Publikum eine Kugel in den Kopf geschossen hat. – Soso, unser Justizminister war also eine Transe.«
»Oder das war ein sexuelles Rollenspiel. Den Partner Unterwäsche des anderen Geschlechts tragen zu lassen«, dozierte Amendt. Dann bemerkte er, dass ihn Katharina und Sturmer verwundert anstarrten. Seine Wangen bekamen rote Flecken. »Hab ich mal in einer Pathologie der Sexualität gelesen«, ergänzte er viel zu hastig.
Wer’s glaubt, wird selig, schoss es Katharina durch den Kopf. Dann erinnerte sie sich, dass Amendt in seinem Leben nur mit einer Frau geschlafen hatte. Ihrer Schwester Susanne. Seiner Verlobten. Hatten sie solche Spielchen gespielt? Katharina sah Susannes verschmitztes Lächeln vor sich. Zuzutrauen war es ihr.
Amendt und Sturmer zögerten, Vogel den Slip abzustreifen. Als ob sie sich mit irgendetwas anstecken könnten. Also bat Katharina um eine Schere und durchschnitt die beiden Haltebändchen. Sorgfältig faltete sie den Slip, um ihn in einen Plastikbeutel zu stecken.
Doch dann zögerte sie. Durch die Ausbeulung durch den Penis war die Stickerei im Schritt zuerst nicht zu erkennen gewesen: eine Schachfigur. Die Dame, um exakt zu sein. Wer stickte sich denn so was in den Schritt?
Sturmer dachte offenbar das Gleiche: »Die mächtigste Figur auf dem Brett. Gleichzeitig weiblich. Freud hätte seine Freude daran. Ich sag ja, eine Transe.«
Das ist natürlich eine einfache Erklärung, dachte Katharina und wollte den Slip zu den anderen Kleidungsstücken legen. Eine kleine geheime sexuelle Vorliebe, vielleicht ein Erpressungsversuch, Angst vor dem drohenden Skandal. War das der Grund für Vogels Selbstmord?
Doch andererseits: kein Tascheninhalt, die Kleidung elegant, aber nichtssagend. Vogels Suizid war geplant und gut vorbereitet gewesen. Und dann trug er einen Slip, der ihn bloßstellte?
Sie betrachtete das Höschen noch einmal genauer. Wenigstens war ihr Fachwissen in Sachen weiblicher Unterwäsche einmal kriminalistisch nützlich. Sie erkannte die von Hand gesetzten Nähte, die leichten Unregelmäßigkeiten in der Stickerei, die gleichfalls auf Handarbeit schließen ließen. Hatte Vogel sich den Slip anfertigen lassen? Nur für diesen Anlass? Sicherheitshalber legte sie den Plastikbeutel mit dem Slip etwas abseits.
Amendt hatte unterdessen den Leichnam abgeduscht, Blut und Dreck weggespült. Dann hatte er Sturmer das Paket Strohhalme in die Hand gedrückt und ihn angewiesen, zwei davon möglichst gerade ineinanderzustecken.
Mit der Kamera am Schwenkarm fotografierte Amendt die Wunde an Vogels Hals, während er diktierte: »Augenscheinlich ist die Eintrittswunde am Hals, deren Durchmesser an der breitesten Stelle«, Amendt maß mit einem Lineal, »sieben Zentimeter beträgt. Die Wunde ist nach Form und Größe konsistent mit einer Schusseintrittswunde. Die sternförmigen Ausrisse sowie der klar abgegrenzte Schmauchring lassen auf einen aufgesetzten Schuss schließen. Der Einschusswinkel beträgt …«
Er nahm Sturmer die ineinandergeschobenen Strohhalme aus der Hand und schob sie vorsichtig in die Wunde. Dann zog er einen gleichfalls an einem Schwenkarm befestigten Winkelmesser herab und hielt ihn neben den Hals des Toten.
»… 47 Grad zur Körperachse«, fuhr er fort zu diktieren. Er zog den Strohhalmverbund vorsichtig aus der Wunde und maß die Wundtiefe: »Der Schusskanal ist einundzwanzig Zentimeter lang und nachverfolgbar bis zur Schädeldecke. Nach Lage des Einschusskanals hat das Geschoss das Stammhirn und den Okzipitallappen penetriert. Weitere Hirnschädigungen sind nicht auszuschließen, doch die beschriebenen Verletzungen sind bereits ausreichend todesursächlich.« Er warf die Strohhalme in einen Behälter für medizinischen Abfall. Dann betastete er Vogels Hinterkopf. »Eine punktuell begrenzte Schädelfraktur mit Ausstülpung nach außen ist leicht ertastbar. Eine Austrittswunde ist nicht festzustellen. Das Projektil befindet sich noch im Schädel.«
Amendt tastete den Rest des Schädels ab, zuletzt unter dem Kinn. Er hielt überrascht inne und sah zu Katharina auf: »Haben Sie zufällig eine Pinzette? Oder eine kleine Zange?«
Pinzette? Zange? Nein. Oder …? Doch. Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem kleinen Leatherman, den sie dem Werkzeugset in ihrer Handtasche hinzugefügt hatte. Sie klappte die Zange auf und reichte sie Amendt. Er führte die Backen der Zange vorsichtig in die Wunde ein. Ein paar Sekunden später zog er sie wieder heraus und diktierte: »Das Projektil konnte aus dem Weichgewebe am Hals des Verstorbenen geborgen werden, ohne den Schädel zu öffnen.«
Читать дальше