1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Glückstreffer, dachte Katharina. Das Geschoss musste im Schädel ein paar Mal abgeprallt sein und hatte zufällig durch die Einschussstelle wieder hinausgefunden. Amendt reichte ihr das Geschoss auf einer Untertasse.
Katharina rollte sich zu einem Waschbecken und wusch die Kugel vorsichtig ab. Das Geschoss war schwer deformiert, aber sie erkannte es sofort. Vollblei. Flachköpfig und ohne Spitze. Ein sogenanntes Wadcutter-Geschoss. Sportmunition.
Sie berichtete Amendt davon.
Er diktierte ihre Erkenntnisse direkt in den Bericht. Dann drückte er auf den Schalter am Kabel des Headsets: »Na, der hat’s aber wirklich gewollt.«
»Was gewollt?«
»Sterben. Die richtige Art zu schießen, der Schluck Wasser, maximal verformende Munition …«
»Wozu dient denn der Schluck Wasser?«, fragte Sturmer. »Ich meine, ich habe schon davon gehört, aber …«
»Zweierlei«, erklärte Andreas Amendt. »Zum einen muss das Geschoss so durch noch eine Schicht durch, die einen anderen Widerstand bietet als die übrige Umgebung. Das bremst das Geschoss und lässt es taumeln. Der Schaden wird dadurch größer. Gleichzeitig verteilt das Wasser die Druckwelle und führt zu einer weiteren Deformation des Gehirns und seiner Blutgefäße. Ein zusätzliches Hirntrauma, wenn Sie so wollen. – Vogel war vermutlich schon hirntot, bevor er auf dem Boden aufgeschlagen ist.«
Katharina hatte die Kugel verpackt, während Amendt die bei den Rettungsmaßnahmen zugefügten Verletzungen dokumentierte: gebrochene Rippen und Druckstellen von der Reanimation. Leichte Hautreizung von den Paddles des Defibrillators, zwei Einstichstellen im Brustkorb von den Epinephrin-Spritzen.
Dann suchte er Vogels Körper sorgfältig nach weiteren Spuren und Verletzungen ab. Bei den Oberschenkeln hielt er inne. »Sehen Sie das?«, fragte er Sturmer.
»Holla, ein Ritzer war er auch.«
Katharina rollte sich wieder an den Tisch. Ihre Augen mussten sich erst an das gleißende Licht der OP-Lampen gewöhnen, dann sah auch sie die feinen weißen Linien auf der gebräunten Haut. Sie kannte solche Narben. Hatte sie schon zu oft bei ihren Ermittlungen gesehen.
»SVV?«, fragte sie. Selbstverletzendes Verhalten?
»Sehe ich auch so.« Amendt schaltete das Headset wieder an.
»Auf der linken und rechten Innenseite des Oberschenkels rechtwinklig zur Beinachse verlaufende, dünne Narben«, diktierte er. »Nach Form und Länge ist von einer Selbstzufügung mittels eines scharfen Werkzeugs auszugehen. Die Narben sind jedoch gut verheilt und mehrere Jahre alt.« Er wandte sich an Sturmer: »Dann wollen wir mal schauen, was wir auf der anderen Seite finden. Helfen Sie mir, ihn umzudrehen.«
Sturmer tat, wie ihm geheißen.
Sorgfältig, Zentimeter um Zentimeter, beginnend beim Haaransatz suchte Amendt den Körper ab. Als er die Pobacken auseinanderzog, hielt er eine Sekunde inne. Dann diktierte er weiter: »Haut und Schleimhaut um die Afteröffnung gerötet und gereizt. Spuren analog zu einem Klysma oder analer Stimulation innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden. Narbengewebe um die Afteröffnung lässt auf regelmäßige Penetration schließen.«
»Transe und schwul«, stellte Sturmer fest.
Katharina widersprach: »Nein, er war verheiratet.«
Sturmer stieß verächtlich die Luft aus: »Alibi-Braut.«
»Ach, es gibt auch Heteromänner, die auf so was stehen.«
»Und wie …?«, fragte Sturmer mit einer Mischung aus Ekel und Neugierde.
»Mit einem Strap-on. Einem Dildo zum Umschnallen.« Katharina sah Sturmer an, dass er nur so darauf brannte, zu fragen, woher sie das wusste. Der Psychologe war also doch zu schockieren. Sie fasste zusammen: »Gestern hat er Analverkehr gehabt. Und heute schießt er sich eine Kugel in den Kopf.«
»Vielleicht wollte er noch mal Spaß haben«, schlug Sturmer vor.
Amendt räusperte sich: »Die Narben auf den Oberschenkeln sind ein klassisches Symptom für jugendliche Depression oder eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. Kann sein, dass ihn seine Jugend wieder eingeholt hat. Ein Rückfall.«
»Wollen wir das wirklich so in den Bericht schreiben?«, fragte Katharina.
Amendt zögerte, dann schüttelte er energisch den Kopf. »Nein. Das wäre alles reine Spekulation. Und wir sollen ja nur die Vorgänge von heute dokumentieren. Fürs Motiv sind wir diesmal ja Gottseidank nicht zuständig.«
Er speicherte den Bericht ab, legte eine Kopie an und redigierte sie, bis sie nur noch die Beschreibung der tödlichen Verletzung enthielt.
Endlich schaltete Amendt den Monitor ab. Gemeinsam mit Sturmer hob er den Leichnam Vogels auf eine Bahre und schob sie in eines der stählernen Kühlfächer, die an einer Seite des Autopsieraums auf ihre Gäste warteten. Bevor er die Klappe hinter dem Leichnam schloss, hielt Amendt noch einmal inne. »Dem schwarzen Schwarm des Todes zum Opfer gefallen«, murmelte er leise.
»Was hat er damit gemeint?«, fragte Katharina, die auf ihrem Hocker hinter den beiden Männern her gerollt war.
»Was hat wer mit was gemeint?«
»Na, mit ›der schwarze Schwarm des Todes‹. Das hat Vogel in seiner Rede gesagt. Und er hat Sie danach gefragt. Auf dem Rundgang mit den ganzen Sponsoren.«
Amendt holte Luft, als wollte er zu einem längeren Vortrag ansetzen. Doch dann ließ er die Schultern sinken. »Ach, nichts. Ein medizinisches Ammenmärchen.«
***
Beratungspartie
Der Uhrzeit nach Montag,
aber gefühlt noch immer Sonntag, 6. April 2008
»Life is a kind of Chess, with struggle, competition, good and ill events.«
Benjamin Franklin
Im Niemalsland.
Knallen. Ein Blitz.
Katharina riss die Augen auf.
Doch sie blickte nur in das knisternde Kaminfeuer im Wohnzimmer ihrer Eltern. Einer der brennenden Holzscheite war wohl noch nicht ganz durchgetrocknet gewesen. Das Wasser im Inneren hatte sich erhitzt und das Scheit aufplatzen lassen. Als Kind hatte sie diese kleinen Feuerwerke geliebt.
Ihre Schwester Susanne saß auf ihrem Lieblingssessel, kichernd, mit einem Finger gedankenverloren mit der neonblauen Strähne spielend, die sie sich in ihr schwarzes Haar gefärbt hatte. Ihre Form der Anarchie.
Ihre Eltern saßen auf dem Sofa, wie immer. Ihr Vater gut gelaunt, der rote Bart sauber gestutzt. Ihre Mutter, ganz strenge Professorin, ihn tadelnd ansehend.
Erst jetzt bemerkte Katharina, dass sich noch mehr Menschen im Wohnzimmer befanden. Im Sessel neben ihr saß Thomas. Ihr langjähriger Partner bei der Polizei. Gut sah er aus. Wie üblich aus dem Ei gepellt mit seinem auf Maß gefertigten Anzug.
Moment! Thomas war tot. Er war während der Geiselnahme erschossen worden, bei der Katharina den Sohn der Oberbürgermeisterin gerettet hatte. Auch die anderen Menschen im Raum: Alle waren sie tot. Professor Paul Leydth, Andreas Amendts Zieh- und Doktorvater, ganz der gemütliche Großvater mit seinem weißen Bart und der Strickweste unter dem Jackett. Angelica Leydth, seine Frau. Katharina hatte selbst mit angesehen, wie sie gestorben waren. Damals. Als Katharina und Andreas Amendt geglaubt hatten, endlich den Mord an Katharinas Familie aufgeklärt zu haben.
Tripp stand bei ihnen. Der leicht autistische Anwalt der Leydths versteckte sich halb hinter dem Rücken des Professors.
Neben ihnen, selig-vergnügt lächelnd, Absalom Schmitz, natürlich im Anzug mit bunter Fliege, das weiße Haar sturmzerzaust. Der Anwalt von Katharinas Vater. Sein Testamentsvollstrecker.
Dort, vor dem Panoramafenster, stand eine unscheinbare Gestalt. Deckname Koala. Sein richtiger Name … Ach ja, richtig. Hartmut Müller. Katharina meinte, den Geruch der von ihm so geliebten Eukalyptuspastillen bis zu ihrem Platz riechen zu können. Seine Rolle hatte sie nie so ganz verstanden. Bevor er sie aufklären konnte, war er erschossen worden. Mit Katharinas Dienstwaffe. Von der Frau, die neben ihm stand und mit der er sich offenbar blendend unterhielt. Eine Profikillerin mit dem Codenamen S/M. Schneewittchen wäre der passendere Deckname gewesen: die Haut weiß wie Schnee, die Lippen rot wie Blut, die langen Haare schwarz wie Ebenholz.
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