Sie erinnerte sich noch, wie sie am Ende des Interviews aufgelegt hatte. Wie ihr Herz plötzlich bis zum Hals geschlagen hatte. Ihre Hände hatten gezittert. Frustriert hatte sie sie auf die Platte ihres Küchentischs gepresst, doch es hatte nichts genützt. Stattdessen hatten erst ihre Arme das Zittern übernommen, dann ihre Schultern, schließlich der Rest ihres Körpers, als hätte sie der Schüttelfrost gepackt. Selbst ihre Zähne hatten geklappert.
In den letzten drei Monaten hatte man sie mit Messern und Giftschlangen attackiert, mit Schusswaffen aller Art bedroht. Einmal hatte sie sogar wiederbelebt werden müssen. Doch nie hatte sie solche Panik empfunden wie nach diesem Radiointerview.
Fuck! Katharina schlug mit der Faust so hart auf die Tischplatte, dass das Telefon vor ihr in die Höhe sprang.
So ein alberner Anlass. Ein Radiointerview! Sie wollte lachen, doch alles, was sie zustande brachte, war eine erstickte Mischung aus Grunzen und Schnauben.
Nicht das Radio hatte sie am Morgen aus der Fassung gebracht. Sondern der zweite Interviewpartner: Dr. Andreas Amendt.
Nur eine anonyme Stimme am Telefon war er gewesen. Souverän hatte er geklungen. Erholt. Entspannt.
Ganz anders als in ihrem letzten Gespräch. Vor mehr als zwei Monaten. Seine Stimme ein tonloses Krächzen. »Warum haben Sie mich nicht sterben lassen?«
Er hatte versucht, sich umzubringen. Katharina hatte ihn in letzter Sekunde gefunden. Ihn am Leben erhalten.
Und das war der Dank gewesen: ein gekrächzter Vorwurf.
Gleich darauf hatte er sich wütend weggedreht und sich demonstrativ die Decke über den Kopf gezogen.
Und danach? Fast drei Monate Schweigen. Gegenseitiges Ignorieren. Aus dem Weg gehen.
Bis auf einen kurzen Moment. Katharina hatte allen Mut zusammengenommen. War in die Uni-Klinik gefahren. In die psychiatrische Abteilung. Der freundliche Oberarzt hatte sie in den Garten geschickt. Dort hatte Amendt auf einer Parkbank gesessen. Katharina hatte sich neben ihn gesetzt. Er hatte sie nicht mal angeschaut. Sie hatte den Mut verloren und sich nicht getraut, zu fragen, wie es ihm ging. Nicht mal das hatte sie über die Lippen gebracht.
Doch dann war der Tag gekommen, an dem sie sich nicht mehr ausweichen konnten. Der Eröffnungstag der Sonderermittlungseinheit. Vogels Suizid. Die Leichenschau.
Plötzlich sah Katharina Amendt wieder vor sich. Wie er ihr vorwurfsvoll seine Hand hinstreckte, die verkrampften Finger zur Klaue erstarrt. Weil sie zu spät gekommen war. Er musste sie wirklich hassen.
Und trotzdem hatte er sie gefickt? Oder vielleicht gerade deswegen? Hass-Sex? Jedem anderen Mann hätte sie das zugetraut. Aber Amendt, der in seinem Leben nur mit einer einzigen Frau geschlafen hatte?
Oder hatten sie sich versöhnt?
Katharina erinnerte sich an den Moment damals, nach der Beerdigung von Marianne Aschhoff. Vor Amendts Haus. Er hatte sie geküsst. Seine Lippen hatten die ihren nur leicht berührt. Aber der Kuss hatte einen Stromschlag durch ihren Körper gejagt.
»Alles in Ordnung? – Auuuu!«
Mit einer einzigen, fließenden Bewegung war Katharina aufgesprungen und hatte dem Eindringling mit der Fußkante in den Bauch getreten. Im nächsten Augenblick hatte sie ihm die Beine weggekickt, er lag auf dem Bauch, sie saß auf seinem Rücken, seine Arme fest im Griff.
Dann erst erkannte sie den mutmaßlichen Angreifer. Amendt. Natürlich. Rasch ließ sie ihn los, sprang auf und streckte ihm dann entschuldigend die Hand hin, um ihm aufzuhelfen.
Er nahm die Hand nicht. Leicht und federnd stand er auf und zog sich das T-Shirt gerade. Wenigstens war sein Oberkörper nicht mehr nackt.
Ein paar Sekunden standen sie sich gegenüber.
Was nun?
»Kaffee?«, fragte Katharina übereifrig das Erste, was ihr in den Sinn kam.
Amendt blinzelte verwirrt. Dann sagte er: »Es ist zwar mitten in der Nacht. Aber warum nicht?«
Froh, etwas zu tun zu haben, spurtete Katharina zur Kaffeemaschine, schaltete sie ein, stellte zwei Tassen darunter, düste zum Kühlschrank, holte die Milch, füllte den kleinen Stahltopf des Milchaufschäumers, sauste zurück zum Kühlschrank, stellte die Milch wieder hinein und eilte zurück zur Kaffeemaschine.
Nun komm schon, trieb sie die ehrwürdig-stählerne Profimaschine – ein Geschenk ihres Patenonkels – im Geiste an. Endlich sprudelte der Kaffee in die Tassen und der Dampfauslass hatte genug Druck, um die Milch aufzuschäumen.
Sie häufte auf jede Tasse einen Berg Milchschaum, nahm die Tassen und stellte sie einladend auf den Küchentisch.
»Danke«, sagte Andreas Amendt. »Und ich sehe, Sie können Ihren Fuß wieder belasten. – Wie geht es der Schulter?«
Vorsichtig drehte Katharina den Arm im Gelenk, ließ die Schulter kreisen. Nichts. »Auch gut.«
»Hervorragend.« Amendt setzte sich endlich auf den Stuhl, vor dem Katharina seine Kaffeetasse abgestellt hatte.
Ein Schluck Kaffee. Schweigen.
Noch ein Schluck Kaffee. Schweigen.
Noch ein Schluck … Was jetzt?
»Haben wir …? Haben wir letzte Nacht eigentlich ein Kondom benutzt?« Und das ist die erste Frage, die dir einfällt, Katharina?
Amendt blinzelte wieder. »Nein. Wozu?«
Wozu? Hatte er wirklich »Wozu?« gefragt? Sie hatten … ohne Verhütung? Großer Gott! Bei ihrem Glück hatte sie sicher gerade ihre fruchtbaren Tage. Schnell! Was jetzt? Pille danach. Genau! Sie hatte eine. Irgendwo im Bad. Katharina sprang auf.
Amendt prustete los. Umstandslos. Lachte. Lachte lauter. Sein Gesicht lief rot an. Katharina wusste nicht, ob sie jetzt ihrer Panik nachgeben, gekränkt sein oder ihm eine Ohrfeige verpassen sollte, um seinen Lachanfall zu stoppen, bevor er sich ins Hysterische steigerte.
Sie hatte schon die Hand gehoben, als Amendt aufhörte zu lachen. Tränen rannen ihm über die Wangen. »Wir hatten keinen Sex!«, stieß er atemlos hervor.
Katharina ließ die Hand sinken. Kein Sex! Das war doch eine gute Nachricht, oder nicht? Nicht ungewollt schwanger von dem Mann, der sie hasste. Warum mischte sich dann Enttäuschung in ihr Gefühlswirrwarr?
Sie setzte sich wieder und nahm einen Schluck Kaffee.
Amendt lehnte sich vor, musterte sie kritisch: »Haben Sie wirklich geglaubt, ich hätte mit Ihnen geschlafen?«
Ja, ja, sie hatte schon verstanden, dass er den Gedanken an Sex mit ihr nur komisch fand. Musste er noch weiter darauf herumreiten?
Er schüttelte missbilligend den Kopf: »Frau Klein, das wäre eine glatte Vergewaltigung gewesen.«
Was warf er ihr denn jetzt vor? Sexuelle Belästigung?
Er legte seine Hand auf ihren Unterarm. »Erinnern Sie sich nicht? – Das habe ich befürchtet.«
»Erinnern an was?« Katharina wischte Amendts Hand ärgerlich beiseite und schämte sich zugleich, dass ihre Stimme so giftig klang.
»Na ja, gestern Abend. Wir haben gegessen. Sie haben Ihre Medikamente genommen. Dann habe ich Sie gefragt, ob Sie Schmerzen haben. Sie hatten. Also habe ich vorgeschlagen, dass Sie sicherheitshalber noch eine der Schmerztabletten nehmen. – Ich hätte es wissen müssen. Tut mir leid.«
»Was hätten Sie wissen müssen?«
»Dass Sie nur selten Schmerzmittel nehmen. Und dass eine ganze Tablette zu viel war. Sie waren auf einmal ganz benommen. Also habe ich Sie lieber ins Bett gesteckt.«
»Und Sie? Wie sind Sie in mein Bett gekommen? Mehr oder minder nackt?«
»Ich … Ich habe im Gästezimmer geschlafen und bin davon aufgewacht, dass Sie geschrien haben. Da bin ich zu Ihnen gekommen. Wusste ja nicht, ob das vielleicht Schmerzensschreie waren. Nicht, dass Sie sich bei dem Sturz noch eine andere Verletzung zugezogen haben. Aber es war nur ein Albtraum.«
Richtig. Nur ein Albtraum. Katharina starrte auf das braun-verklebte Milchschaumgebirge in ihrer Tasse, um nicht Amendt anschauen zu müssen.
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