Ein Politiker mit steiler Karriere hinter sich und noch größerer vor sich. Doch kein Karrierist, stellte der Artikel in einer Zwischenüberschrift fest. Keiner, der mit schmierig zur Schau gestellter Volksnähe um die Wählergunst buhlte. Keiner, der mit vorgefertigten Aussagen in Talkshows saß.
Im Gegenteil, wie der Kommentator betonte. Vogel hatte sein Mandat sehr ernst genommen und war keinem Streit aus dem Weg gegangen: Mit dem Innenminister und den Sicherheitsbehörden, wenn es um die Grundrechte und bürgerlichen Freiheiten ging. Mit dem Ministerpräsidenten, dessen sturzkonservative Haltung er als verdächtig weit im schwarzbraunen Grenzgebiet verortete. Mit der eigenen Partei, deren Credo »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« ihn so anwiderte, dass er auf dem letzten Parteitag den Antrag gestellt hatte, alle Parteifunktionärsgehälter zu streichen.
Das, so eröffnete der Artikel endlich den munteren Reigen der Spekulationen über das Motiv für Vogels Selbstmord, mochte auch der Grund für seine Verzweiflung gewesen sein. Dass in diesem Land Argumente und das sachlich Richtige nicht mehr zählten. Dass man einander nicht mehr zuhörte. Dass jeder sich nur noch seiner Klientel verpflichtet fühlte. Und dem dumpf braunwabernden Sumpf des Stammtischs.
Der Artikel spekulierte weiter, dass vielleicht – hinter den Kulissen – Feinde an Vogels Stuhl gesägt hatten. Und Vogel, ganz der Schachspieler, hätte nur ein paar Züge vorausgedacht. Das Foto neben diesem Absatz zeigte ihn dann auch über ein Schachbrett gebeugt.
Zuletzt, wohl als Ausgleich für die Verschwörungstheorien, zitierte der Artikel einen Psychiater, der darauf hinwies, dass die weitaus häufigste Ursache für einen Suizid in einer psychiatrischen Erkrankung zu finden sei, oft gepaart mit einer Lebenskrise, die sich eher aus dem privaten Umfeld speiste.
Katharina ließ die Zeitung sinken. Der Slip. Die Narben. Die sexuellen Vorlieben. All das schien dem Psychiater recht zu geben. Doch als Todesermittlerin hatte sie mehr Suizide gesehen, als ihr lieb war. Oft blieben die Gründe im Dunklen, Diagnosen wurden posthum gestellt. Der Ringschluss »Der Tote hat Selbstmord begangen, also muss er psychisch krank gewesen sein, ergo war eine psychische Erkrankung die Ursache« war ihr schon immer bitter aufgestoßen. Zu einfach. Zu glatt.
»Was glauben Sie, warum er es gemacht hat? Vogel, meine ich?«, unterbrach Glaser ihre Gedanken. Er hatte sich auf dem Beifahrersitz zu Amendt und ihr umgedreht.
Katharina hatte keine Antwort für ihn. Auch Amendt sagte nur: »Das kann ich Ihnen nicht so einfach beantworten. Fest steht für mich nur, dass er es wirklich gewollt hat.«
»Was gewollt hat?«, fragte Glaser verständnislos.
»Sterben. Der präzise Schuss unters Kinn. Der Schluck Wasser vorher …«
»Warum haben Sie dann alles getan, um ihn zu retten?«
»Weil ich es musste. Ich hatte klare Lebenszeichen. Also war ich als Arzt zur Rettung verpflichtet. Aber manchmal dauert es halt nur etwas, bis der Rest des Körpers begriffen hat, dass das Hirn nicht mehr arbeitet.« Nach einem Moment des Schweigens fügte Amendt hinzu. »Außerdem hasse ich es, wenn Menschen sterben.«
»Und dann sind Sie ausgerechnet Rechtsmediziner geworden?«
»Vielleicht gefällt mir die Ironie.«
Amendts zynisch hingeworfener Satz brachte Glaser zum Schweigen. Katharina glaubte, die wahre Antwort zu kennen. Wie hatte es Paul Leydth, Amendts Zieh- und Doktorvater, formuliert? »Medizin ist nur ein höfliches Wort für den Krieg mit dem Tod. Und Andreas hat sich schon immer als Ein-Mann-Spezialeinheit an vorderster Front gesehen.« Als Gerichtsmediziner sei er im »Dauereinsatz hinter den feindlichen Linien«.
Und natürlich hatte sich Amendt auch deshalb für die Fachrichtung entschieden, um irgendwann seine eigene Vergangenheit aufzuklären. Herauszufinden, ob er wirklich Katharinas ganze Familie ermordet hatte.
Er hatte es nicht. Er und Katharina hatten den wahren Täter gefunden. Auf der Suche hatte Amendt jedoch all die Menschen verloren, die ihm etwas bedeuteten.
Katharinas Gedanken wanderten zurück zum Tag von Amendts Suizidversuch. Zu ihrem Abschied vor seiner Haustür. Was hatte Amendt da gesagt? »Ob ich nun als Neurologe daran scheiterte, unheilbar Kranken zu helfen, oder als Gerichtsmediziner den Toten … Es kommt wohl aufs Gleiche raus.« Er hatte unendlich müde geklungen. »Ehrlich gesagt will ich jetzt erst einmal schlafen. Und am liebsten nicht mehr aufwachen.«
»Schlafen und nicht mehr aufwachen.« Das war eine Suizidankündigung aus dem Lehrbuch.
»Damit Sie an mich denken. Andreas Amendt« war auf einer UV-Lampe eingraviert gewesen. Amendts Abschiedsgeschenk an sie. Sein Abschiedsbrief. Sieben Worte.
***
Im Büro
des Innenministers.
»Spielen Sie Schach?«
Katharina konnte den Frager im düsteren Halbdunkel des Büros zunächst nicht ausmachen. Die schweren Vorhänge waren zugezogen, einzig eine kleine Lampe warf dämmriges Licht auf einen Tisch mit einem Schachspiel. Dahinter, im Halbdunkel, kauerte Hanfried de la Buquet. Ein uralter Mann, dachte Katharina. Sie trat an den kleinen Tisch und besah sich die Stellung auf dem Schachbrett.
»Ich sehe den Zug nicht. Ich sehe ihn einfach nicht …«, murmelte der Minister eher zu sich selbst als zu seinen Gästen. Katharina fragte sich, ob sie sich im Sessel ihm gegenüber niederlassen sollte. War dies ein Test?
De la Buquet blickte erstaunt auf, als habe er Katharina eben erst bemerkt. Seine Gestalt straffte sich, mit einem Ruck stand er auf.
»Ah, Kriminaldirektorin Klein«, sagte er energisch. »Gut, dass Sie da sind. Ich muss mit Ihnen über Ihren Bericht sprechen!« Er ging an Katharina vorbei zu seinem Schreibtisch und drückte auf einen Schalter. Licht flammte auf. Die schweren Vorhänge fuhren automatisch beiseite und ließen den Frühlingsmorgen hinein. Gleichzeitig klappten die oberen Teile der deckenhohen Fenster auf.
Der Innenminister setzte sich in den Sessel hinter seinem monströsen Eichenschreibtisch aus der Gründerzeit, der sich in die nüchtern-moderne Architektur des Innenministeriums ungefähr so gut einpasste wie eine tausendjährige Buche in einen japanischen Bonsaigarten.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte er beflissen. »Bitte, bitte, setzen Sie sich. Und entschuldigen Sie, dass ich Sie vor Tau und Tag hierher zitiert habe. Das ist sonst nicht meine Art. Wirklich nicht. Aber ich fürchte, was ich mit Ihnen beiden zu besprechen habe, duldet keinen Aufschub.« Er begann, hektisch die Schubladen seines Schreibtisches aufzuziehen und zu durchwühlen. »Wo habe ich denn …? Ach, hier.«
Er warf einen Schnellhefter auf den Tisch. Katharina nahm ihn und blätterte ihn durch: der Bericht, den sie am Vortag erstellt hatten.
»Und?«, fragte sie.
»Ich bin sehr unzufrieden damit.«
»Er enthält eine genaue Dokumentation des Vorfalls wie erbeten.« Katharina ärgerte sich, dass sie so defensiv klang.
»Was vorgefallen ist, weiß ich auch so!«, blaffte der Innenminister. »Ich saß ja schließlich direkt daneben. – Das Warum will ich wissen! Warum hat Vogel sich erschossen?«
Katharina wollte etwas sagen, doch Amendt kam ihr zuvor: »Das Warum ist bei Suiziden nicht unsere Aufgabe. Angesichts der Mittel und Zeit –«
Der Innenminister hob die Hand, um Amendt zu bremsen: »Ich weiß, ich weiß. Vielleicht habe ich auch einfach nur ein Wunder erwartet. Also gut …« Er griff wieder in die Schublade und zog einen Briefumschlag hervor, aus dem er zwei kleine Karten nahm, die wie besonders hochklassige Kreditkarten aussahen. Er legte die Karten vor Katharina und Amendt auf den Schreibtisch. Sie waren schwarz, hatten ihre Namen sowie mehrere Nummern eingeprägt und trugen ihre Fotos neben dem Dienstsiegel des Innenministeriums. »Hier! Die werden Ihnen die notwendigen Türen für Ihre Aufgabe öffnen. Ich ernenne Sie beide temporär zu Speziellen Ermittlern im Dienste des Innenministeriums.« Er lachte schrill auf: »Intern sprechen wir von den SEDI-Rittern.«
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