Da war es wieder, das komische Gefühl.
Besonders, weil er mit Robert, seinem besten Freud, bald nach Bad Frankenhausen fahren und am Kyffhäuser wandern gehen wollte. Nah an Nordhausen.
Donnerstag, 22. Oktober 1942, Mittag, Nordhausen
Lange konnte es nicht mehr dauern. Nach der missglückten Landung der Kanadier bei Dieppe am 18. und 19. August 1942 befahl Hitler die Befestigung der gesamten Atlantikküste. Das hieß, dass die Produktion nochmals erhöht werden musste. Die Grube hatte gigantische Ausmaße angenommen. Über einen Kilometer lang, 600 Meter breit, teilweise 50 Meter tief, nur in der Mitte blieben noch gut 100.000 m 3übrig, da man von Norden und Süden her mit dem Abbau begonnen hatte. Der Krieg hatte bis jetzt Unmengen an Baumaterial erfordert. Für Bunker, Befestigungen jeglicher Art, für Straßen. All dies brauchte Kies. Um den Bedarf an Beton vor Ort zu befriedigen war in Steinwurfweite der Grube ein Mischwerk errichtet worden, das in zwei Schichten arbeitete. Er rief Steiner an.
„Hier ist Walther vom Kiestagebau Nordhausen. Guten Tag Herr Steiner. Ich habe soeben einen Anruf aus dem Büro des Gauleiters erhalten. Wir sollen melden, wie lange wir liefern können und welche Menge noch zu erwarten ist. Der Führerbefehl zum Atlantikwall lässt grüßen.“
Steiner, der Geologe, antwortete:
„Also so aus der Ferne geschätzt und unter Beachtung der jetzigen Fördermenge rechne ich mit noch 6 Monaten. Die Länge ist fast ausgeschöpft, in der Breite können wir vielleicht noch jeweils 20 Meter zulegen. Muss ich mir vor Ort noch genau ansehen. Ich bin heute Nachmittag bei Ihnen. Einen schönen Tag noch.“
Das übliche „Heil Hitler“ vermieden beide untereinander.
Donnerstag, 22. Oktober 1942, Vormittag, Weimar
Der Mann, der Fritz Sauckel gegenüber saß, war schmächtig, hatte bereits, obwohl er erst Anfang vierzig schien, alle Haare verloren und trug eine runde Brille, deren Gläserstärke auf starke Kurzsichtigkeit hindeutete. Seine Kleidung war unauffällig, der Anzug wenig elegant und bereits etwas abgetragen. Den Mantel hatte er an die Garderobe gehängt, sein Hut lag auf der Kommode.
Wer ihn nicht kannte konnte ihn für einen Buchhalter oder einen Büroleiter halten. Alles in allem wirkte er wie eine graue Maus. Sauckel wusste es anders. Überraschenderweise hatte er gestern einen Anruf aus dem Rüstungsministerium erhalten. Dr. Fassbender würde morgen bei ihm zum Gespräch erscheinen. Wenn Fassbender selbst kommt liegt etwas in der Luft hatte er sich gesagt. Fassbender war so etwas wie die Schnittstelle zwischen Speer und Todt gewesen. Nachdem Todt im Februar 1942 beim Flug zur Wolfsschanze abgestürzt war musste Fassbender in der Hierarchie aufgerückt sein. Welche Funktion er jetzt einnahm wusste Sauckel nicht, er vermutete aber, dass Fassbender nah an Speer dran war. Aus seinen bisherigen Gesprächen mit dem Mann ihm war klar geworden, dass Fassbender schnell zur Sache kommen würde, schließlich hatte er keine Zeit zu verschwenden.
„Gauleiter, ich habe den Auftrag, Ihnen einen streng vertraulichen Brief zu übergeben. Ich bitte Sie, diesen jetzt zu lesen. Vorerst geht es nur darum, Ihnen grobe Informationen zu geben. Die Details werden Ihnen später mit der Kurierpost übergeben werden.“
Sauckel drehte den Brief in seinen Händen. Er schätzte, dass in dem Umschlag zwei bis drei Seiten enthalten waren. Mit einem Brieföffner schlitzte er das Kuvert auf und nahm die die Blätter heraus. Er sah Fassbender an, dieser nickte wortlos. Sauckel las.
Er verfügte nicht über besondere intellektuelle Fähigkeiten. Mit 15 Jahren verließ er das Gymnasium ohne Abschluss und heuerte als Matrose an. Den ersten Weltkrieg erlebte er in einem französischen Internierungslager und begann dort, sich politisch zu orientieren. Aus seiner Sicht war das Judentum schuld daran, dass Deutschland den Weltkrieg verloren hatte. Der Schritt zum Antisemiten war demzufolge nicht schwer. Die ärmlichen Verhältnisse, unter denen er nach dem Krieg leben musste, führten ihn bald zur Bewegung Adolf Hitlers. Er wusste, dass er sich mit solchen Weggefährten Hitlers wie Goebbels oder Göring im Geiste nicht messen konnte. Diesen Malus versuchte er mit Treue zu Hitler und Härte gegen Gegner zu kompensieren. Er hatte schnell erkannt, dass aber im Günstlingssystem Hitlers dennoch Platz für ihn war. Da er nicht mit Intelligenz überzeugen konnte blieb ihm nur der Weg durch die Instanzen der Partei. In den frühen 1920er Jahren war er Kreisleiter von Unterfranken im Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund. 1923 trat er in die NSDAP ein, wenig später wurde er zum Ortsgruppenleiter in Ilmenau sowie zum Bezirksleiter der Partei in Thüringen gewählt. Nach dem gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 versuchte er die Parteigefolgschaft in Thüringen zusammenzuhalten. 1924 gründete er die völkische Kampfzeitung "Der Deutsche Aar", 1925 wurde er Gaugeschäftsführer Thüringens und 1927, nach dem von ihm organisierten Sturz des bisherigen Amtsinhabers Artur Dinter, Gauleiter Thüringens. Also ein Mann mit Partei Erfahrung, aber ohne besondere Fähigkeiten und ohne jedes Charisma.
Er legte die Blätter auf den Tisch. Was er gelesen hatte, war ihm zum Großteil unverständlich geblieben. Instinktiv spürte er aber, dass hier eine große Sache auf ihn zukam, aber wie er diese bewältigen sollte wusste momentan nicht. Wieder spürte er dieses Gefühl der geistigen Unterlegenheit aufsteigen, das er jedoch geübt unterdrücken konnte. Er schaute Fassbender unsicher an.
„Nun, Gauleiter“, fragte dieser ihn, „haben Sie Fragen?“
„Ein sicher großartiges Projekt für das Reich, Herr
Dr. Fassbender. Sie müssen verstehen, ich bin kein Techniker und verstehe viele Dinge nicht. Da brauche ich schon Hilfe.“
„Seien Sie unbesorgt. Die Aufgaben, die Sie zu erfüllen haben, liegen im Bereich Ihrer Möglichkeiten. Mit der nächsten Post wird Ihnen genau erklärt, wer an dem Projekt mitarbeitet und welche Aufgaben er hat. Ich selbst leite den Sonderstab „WF 44“ und werde alles in der Hand behalten. Diese Blätter dort“, er wies auf den Tisch „ und alle Post die Sie noch erhalten werden gibt, es nur einmal. Es existiert nicht einmal eine Fotokopie. Ich hoffe, Sie können die Bedeutung des Projektes für das Reich damit richtig einordnen. Und ich hoffe sehr, Sie enttäuschen den Führer nicht. “
„Selbstverständlich. Darf ich Ihnen noch einen Kaffee und eine Zigarre bringen lassen, Herr Dr. Fassbender?“
„Gern.“
Beide saßen schweigend in ihren Sesseln. Sauckel versuchte sich vorzustellen, welche Dimension das Projekt hatte. Die entsprechenden Mittel und Arbeitskräfte zu organisieren erschien ihm lösbar. Wovor er Angst hatte war die Tatsache, dass kein Mensch erfahren sollte, was in seinem Gau entstehen würde. Das hieß für ihn auch, Mitwisser zu eliminieren, wenn das Projekt abgeschlossen war. Er durfte keinen einzigen Fehler machen.
Donnerstag, 22. Oktober 1942, Nachmittag, Nordhausen
Steiner fuhr mit einem Horch zur Kiesgrube denn die Gefahr eines Bombenangriffes hielt er zu dieser Zeit für gering. Die Amerikaner hatten 1942 zwar begonnen Ziele in Frankreich anzugreifen, Deutschland blieb noch weitestgehend unbehelligt. Ab und an verirrten sich Bomberbesatzungen wegen Navigationsschwierigkeiten, warfen die Eier irgendwo ab und versuchten in die neutrale Schweiz zu gelangen, um sich dort internieren zu lassen. Eine B 17 konnte das mühelos schaffen, ihre Reichweite betrug fast 5.300 Kilometer.
Donnerstag, 22. Oktober 1942, früh, Dover
Captain Brown konnte sich auf seine Crew verlassen. Sie hatten bereits 24 Einsätze hinter sich und waren jedes Mal wohlbehalten zurückgekommen. Ein paar Einschüsse oder Löcher durch explodierende Flakgranaten waren zwar unschön, aber niemand war zu Schaden gekommen. Einmal hatte sein Kettenhemd, das die Besatzungen über der Fliegerkombination trugen und sie an Brust und Rücken schützen sollte und vom Hals bis zum Becken reichte, einen glühenden Flaksplitter aufgefangen. Am Boden hatte er ihn herausgezogen und trug ihn seitdem als Talisman an einer Kette um den Hals. Mit seinen 28 Jahren war er der Älteste. Seine Babys, wie er sie nannte, waren nicht älter als 22. Alles patente Jungs, die aus verschiedenen Bundesstaaten stammten. Keiner war verheiratet, sie hatten das Leben noch vor sich. Wenn sie vom Einsatz zurückkehrten erzählten sie sich gegenseitig, wie sie sich das Leben nach dem Krieg vorstellten. Jeder hatte seine Pläne und Wünsche.
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