1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Gleich nach dem Streit hatte der Kapitän sie von der Tafel der Schiffsführung verbannt. Sie nahmen die Mahlzeiten seitdem zusammen mit den Philipinos und den drei Anderen vom Vorderschiff. Man hatte keinen Grund zur Klage über die Verpflegung. Joe, der Koch stand dafür ein, daß die Versorgung der Mannschaft nicht schlechter als die ihrer Führung war. Beide, Stellring und Luc waren ohnehin nicht verwöhnt nach der langen Rucksacktour.
Der Grund des Streits gleich am ersten Tag auf See? Luc hatte Jacob vorgeschlagen, man nähme sich den Anstrich jeweils im Schatten vor. Das Schiff fuhr Richtung Nord. Am Vormittag habe man an der linken Seite Sonnenschutz, bei der Arbeit am Nachmittags dann an Steuerbord. Luc hatte die Zustimmung als selbstverständlich angesehen aber der Steuermann hatte sich gegen die Einteilung gesperrt. Vielleicht war Luc mit zu viel Selbstbewußtsein im Tonfall aufgetreten. Der Steuermann hatte verfügt, man beginne mittschiffs an Steuerbord und bis Marseille habe man alle fleckigen Zonen rundum geschafft. Nicht im Wechsel sondern im Uhrzeigersinn sei kontinuierlich auszubessern, bis in die Höhe hinauf, die von der Leiter aus erreichbar sei, mindestens aber bis unter die Auskragung des nächsten Decks.
Vier Stunden gingen sie vormittags der Arbeit gemeinsam mit den Philipinos nach, dann war Pause. Schon gegen drei Uhr nahmen die Philipinos die Arbeit an der Sonnenseite wieder auf. Die Hitze nahm zu dieser Zeit noch zu. Luc Stellring hatten die Schikane nicht akzeptiert und die Arbeit auf der glühend heißen Sonnenseite des Schiffes abgelehnt. Der Kapitän hatte gedroht, er setze sie bei nächster Gelegenheit an Land. Sie hatten sich aufsässig verhalten und dazu gelacht.
Glaubwürdig war seine Drohung nicht. Die Gelegenheit bot sich frühestens in Suez. Auch wenn man in seinem Metier nicht zu Hause war, ließ sich leicht sehen, anlegen würde man ihretwegen nicht. Mochte der Kapitän über die Verstärkung der Mannschaft in Beira wüten, die Kosten und den Zeitverlust würden von einem Reeder niemals akzeptiert. Daß man sie zwangsweise dem nächstbesten Boot mit Fischern übergab, war ebenso unwahrscheinlich, man befand sich immerhin auf einem deutschen Schiff. Luc äußerte im Ernst die Sorge, man packe sie im Halbschlaf und beide gingen sie nachts spurlos über Bord. Mit blinden Passagieren solle das vorgekommen sein. Stellring hatte ihn beruhigt. Sie und die Philipinos kamen bestens miteinander aus. Stellring mochte die drei immer gut gelaunten Burschen. Die Verständigung mit ihnen, Khan ausgenommen, war nicht leicht. Man konnte sicher sein, um jemand unfreiwillig über Bord zu schaffen, verspürten die Philipinos weder Lust noch besäßen sie dazu genügend Kraft. Die drei Anderen vom Vorderschiff blieben die meiste Zeit unter sich. Wie Kriminelle sahen auch sie nicht aus.
Das Schiff hielt Nordkurs. In spätestens sieben Tagen war der letzte Abschnitt ihrer Tour Vergangenheit. Vor Stellrings Abschluß an der Uni standen nur noch Formalien an. Seine Abschlußarbeit war akzeptiert, die Prüfungen vor der Abreise waren gut gelaufen. Luc Haanen war seit einem Jahr im Beruf und kehrte zurück in ein ungeliebtes Büro in Brüssel. Er analysiere die Statistik von Schadensfällen in einem Versicherungskonzern, hatte er erzählt. Die Auskünfte auf Nachfrage nach Näherem hatten sich lustlos angehört. Anscheinend sah er sich nicht in seinem Traumberuf.
Stellring führte einige Bücher zur Vorbereitung auf die Abschlußprüfung mit. Hatte sein Gewissen damit beruhigen wollen aber vorher schon geahnt, viel Zeit erübrige er für sie auf der Reise nicht. Seit die Mädchen nicht mehr dabei waren, hatte er sie zum ersten mal zur Hand genommen im Bewußtsein, der Zeitabstand zum abschließenden Auftritt vor seinem Professor war noch groß. Er würde Teile des Inhalts wieder vergessen haben wenn der Nachweis ihrer Kenntnis gefordert war. Dennoch war die Zeit, die er mit der Lektüre hinbrachte nicht vertan. Die Gedanken bewegten sich wieder in dem Metier, in das er zurückkehren würde sobald die Reise hinter ihnen lag.
Luc hatte seinen Reiseführer zur Hand genommen. Er hing in Gedanken den Eindrücken ihrer langen Tour nach. Sie hatten die weiten Wege bis Beira nicht in voller Länge gemeinsam zurückgelegt. Die Bekanntschaft mit Luc und Jenny ging auf das Zusammentreffen in einem Hostel in Wadi Halfa zurück, einer Stadt nahe der Grenze zwischen Ägypten und Sudan. Stellring und Sarina hatten mit ihnen am gleichen Tisch das Frühstück eingenommen. Man hatte festgestellt, sie hatten bis dahin fast die gleiche Reise hinter sich gebracht, die gleichen Städte und Tempel in Ägypten im Abstand von ein oder zwei Tagen besucht. Jenny und Sarina waren schnell vertraut geworden. Sie waren den ganzen Tag zusammen durch die Stadt gestreift und hatten abends beschlossen, der nächste Abschnitt, die lange Wüstenstrecke bis nach Ad Damir mit dem Linienbus würde gemeinsam zurückgelegt. Seitdem hatte sie sich bis zum Abschied von Sarina und Jenny in Deira in Mozambique nicht mehr getrennt.
Luc spürte eine Spur Neid wenn er auf Stellring sah. Der neue Freund war nicht zum Leben im Bürosessel verdammt wie er seit einem Jahr, sondern war, wenn auch nicht mehr auf lange Zeit, Student. Ein exotisches Fach, hatte er Luc erläutert, Politische Wissenschaften, Teilgebiet Politikgeschichte mit Schwerpunkten auf den Feldern Konflikttheorie und Internationale Beziehungen. Die Beschäftigung mit solchen Gegenständen stand bei den meisten Menschen in Brüssel wie fast überall nicht hoch im Kurs. Stellrings besonderes Interesse gelte dem Übergang der früheren Kolonien Afrikas in die Unabhängigkeit. Thema seiner Abschlußarbeit: die Geschichte der der “Mau Mau”- Bewegung der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Kenia. Luc hatte gesagt, das Fach erscheine ihm nicht vielversprechend für den Broterwerb. Ein unfreundlich klingender aber ehrlicher Kommentar! Er lag nicht falsch. Stellring brauchte Glück, sollte sich nach Ende des Studiums ein Posten finden, dessen Bezahlung den Mühen der Ausbildung entsprach. In Deutschland und vermutlich in anderen Ländern auch, standen statistisch für Absolventen in seinem Fach die Aussichten nicht gut für eine erfolgreiche Berufskarriere.
Nicht ausgeschlossen, er erreichte eine bezahlte Stelle an seiner Universität. Sarina befand sich als Übersetzerin beruflich in einer besseren Lage. Luc war von ihrer Aussicht auf eine Arbeitsstelle in Brüssel fasziniert gewesen. Ein besserer Posten als bei den Übersetzerdiensten der EU sei in ihrem Fach nicht zu finden. In jeder Hinsicht ein Traumjob, hatte er gesagt. Woher er das so genau wisse? Das sei allgemein bekannt, Luc und seine Freundin Jenny würden sich jedenfalls unbändig freuen, käme sie beruflich in ihre Stadt. Die Entscheidung, über Zu- oder Absage stand noch aus. Der Weg von Köln nach Brüssel war nicht weit aber Stellring erwartete Probleme, würden er durch eine Zusage örtlich von ihr getrennt. Sarina hatte im Sudan für ihre Gruppe manchmal die Dolmetscherin gespielt. Mehr als einmal hatten die Einheimischen gestaunt wenn sie Einwohner in Arabisch angeredet hatte. Sarinas Mutter stammte aus Afghanistan hatte sie erzählt. Der Nachname Arnstein nach der Adoption stammte von ihrem Stiefvater aus Deutschland. Stellring wußte, sie sprach ungern über Familiäres. Schmerzliche Zusammenhänge standen im Hintergrund. Jenny hatte sie einmal vorsichtig auf ihren Vater angesprochen. Der Zeitpunkt war schlecht abgepaßt gewesen. Sie hatte Auskünfte nicht abgelehnt aber auf später verwiesen und war von sich aus nicht mehr auf den Punkt zurückgekommen. Weder Jenny noch Luc hatten dann nochmal nachgefragt.
Sarina interessierte sich für Fragen der Politik. Mit Stellring war sie als Besucherin eines Vortrags an der Universität bekannt geworden. Während der langen Tour hatten die Vier sich mehr als einmal über den Stand der Entwicklung und die Machtverhältnisse in den bereisten Ländern ausgetauscht. Die Nähe zu Stellrings Studienfach lag auf der Hand. Meistens hatte er solche Gespräche angestoßen und sie wiederholten sich mehrfach, nur wenig variiert. Die Aussicht auf Entwicklung in den Länder im Osten Afrikas stände schlecht. Armut und das Fehlen von Bildungschancen werde als gottgegeben hingenommen. Kaum Widerspruch gegen Privilegien und Widerstand gegen die überkommene Machtausübung im Kleinen wie im Großen! Vor allem auf dem Land zeige sich keine Auflehnung gegen greifbar ungerechte Hierarchien. Dieser Befund sei seit langem allen ausreichend bekannt. Neu sei für ihn, Stellring, aber die Einsicht, die Menschen erlebten dennoch ihr Dasein nicht als entbehrungsreich. Seine These: man gebe sich hier den Freuden des Lebens hin so gut von den Umstände erlaubt. Die für Europäer sichtbaren Defizite der Mehrheit an Wohlstand und Teilhabe aufgewogen durch körperlich vitale Präsenz der Menschen! Er bewundere ihre Lust an einer Gegenwart von hier und jetzt ohne Vorbehalt. Großzügig diese Entschädigung für den Verzicht auf begrenzten Einfluß und den kümmerlichen Rest an Machtkontrolle, den Europa seinem Einwohner gewährt! Stellring verglich die trübe Stimmung in Kneipen daheim mit immerwährendem Gelächter und guter Laune an jedem Getränkestand und an Tankstellen längs der Reiserouten in Afrika. Luc hatte bei solchen Betrachtungen nicht zugestimmt. Seine Eindrücke wichen von Stellrings meistens ab ohne daß ihn der Befund sonderlich berühre. Auch von Jenny kam Widerspruch: Stellrings Sicht sei auf seine Männerwelt beschränkt und frauenfeindlich. Wie sehe die Lage denn für Mädchen und Frauen aus? Mädchen fehlten im Straßenbild, zumindest in den Gegenden mit starkem Einfluß des Islam. Sie nehme Stellring nicht ab, daß für weibliche Teenager, hinter Mauern sorgfältig versteckt, dieser Zustand freudig hingenommen werde. Stellring hatte dann beharrt, unglücklich sähen jedenfalls etwas ältere Frauen nicht aus, die man zu Gesicht bekam, gleich ob verheiratet oder nicht. Ganz unerträglich werde eine zeitweilige Beschränkung für Mädchen schon nicht sein. Immerhin hielten dicke Mauern die Hitze des Tages ab. Dahinter auszuruhen sei für ihn weniger Zumutung als Privileg. Das andere Geschlecht dagegen, Sonne und herrschender Hitze ausgesetzt, scheue vor der mannhaften Anstrengung der Tagesarbeit nicht zurück. Hatte er provoziert oder vertrat er diese Einstellung im vollem Ernst?
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