Hansen war klar, er selbst oder sein Steuermann würde nach nicht langer Zeit als erste kollabieren. Alle anderen waren gesundheitlich fit und jünger. Er hatte Grund zur Annahme, wahrscheinlich war derjenige, der bald zusammenbrach, er selbst. Bald danach würde die Zeit für die Übergabe gekommen sein. Dann würde sein Versagen bei der Flucht von der Brücke den anderen bekannt. Als Folge seiner mangelnden Umsicht war die Steuerung des Schiffes funktionsfähig in fremde Hand gefallen.
“Wenn Ihr es genau wissen wollt, die Vorschrift empfiehlt, die Brüder zu verscheuchen.” Luc lachte. Stellring spürte die Erschöpfung eines alten Mannes heraus und zugleich das Ressentiment gegen die Jüngeren. Jedenfalls nahm der Kapitän sie beide nicht für voll. Die sinnlose Streiterei von vorgestern war vor allem Jacobs Schuld. Sie hatten aus guten Gründen die Arbeit an der Seite mit der prallen Sonnenhitze abgelehnt. Er hatte die Weigerung starrsinnig und halb im Suff als Meuterei gesehen und den Kapitän gegen sie beide aufgehetzt. Der Student Stellring wog die Perspektiven ab: länger als eineinhalb Tage in diesem stickigen Raum an der Grenze zum Kreislaufkollaps gegen die Aussicht auf Gefangenschaft in der Gewalt von Kriminellen. Gefangen vermutlich auch später noch an Land in unwirtlicher Umgebung aber immerhin in frischer Luft. Lösegeld würde gefordert werden, würde fließen und man kam nach ein paar Wochen wieder frei.
“Wann kriegen unsere Freunde draußen die Steuerung auch gegen Ihren Willen in den Griff?” Jacob der Steuermann gab Antwort:
“Das geht Euch einen Dreck an. Wenn überhaupt, dann dauerte das jedenfalls länger als bis zur Ankunft der “Atalanta”. Mischt Ihr Burschen Euch da nicht weiter ein.”
“Zur Einmischung haben wir ebenso viel Grund wie Sie. Wie weit ist es bis zur Küste? Wenn das Schiff diesen Leuten vielleicht doch noch gehorcht, dann dauert es auch länger bis die “Atalanta” uns zu Hilfe kommen kann.” Kein Kommentar mehr! Kapitän und Steuermann kehrten in ihre Ecke zurück und griffen zu den Bechern mit Tee von ihrem kleinen Tisch. Alle wurden mit dem Getränk versorgt. Wenn man langsam in ganz kleinen Schlucken möglichst ohne Unterbrechung trank, wußte Stellring aus Erfahrung, dann hielt der Kreislauf auch unter dieser Belastung lange aus, vorausgesetzt, die Temperatur stieg nicht mehr weiter an. Ein großzügiger Vorrat an Keksen stand bereit. Stellring dachte an Erzählungen seiner Großeltern vom Krieg. Die Großmutter hatte im Schutzkeller, seine Mutter in einen Weidenkorb gepackt, in ständiger in Angst vor Bomben, nächtelang ausgeharrt. Alles war gut gegangen, sie hatten beide überlebt. Gab es zur Lage hier etwa Ähnlichkeit? Als ebenso bedrohlich schätzte er sie nicht ein. Eine Bombe zum Aufsprengen der Tür gehörte mit Sicherheit nicht zur Ausrüstung der Piraten, er fürchtete auch scharfe Schüsse nicht. Man hatte ihnen vorhin für alle hörbar Schonung zugesagt. Jederzeit konnten sie der freiwilligen Einschließung in diesem Loch durch Kapitulation ein Ende machen.
Der Steuermann versuchte sich abzulenken und schrieb von Hand in eine Kladde. Vielleicht faßte er Protokolle ab. Hansen beugte sich zu ihm hinüber und sprach leise auf ihn ein. Luc Haanen bot sich das Bild einer Idylle. Er legte seine Unversöhnlichkeit vorübergehend ab. Herrschten nicht Enge und Hitze in dem zu kleinen Raum und begegnete die Schiffsführung der Mannschaft mit mehr Respekt, seine Erwartung an diese Schiffstour hätte sich erfüllt. Noch am ersten Tag nach dem Anheuern hatte er sich das Leben an Bord so ähnlich vorgestellt.
Die Lichtmaschine der MS „Stolzenfels” wurde bei Stillstand der Hauptmaschine von einem kleinen Motor angetrieben. Ihr Strom speiste die Deckenlampe. Vorhin, rechtzeitig vor der oberflächlichen Suche im Gang, hatte Tran sie hastig ausgeknipst. Sie waren auch dann nicht zum Ausharren in Finsternis verdammt, falls die Piraten ihnen die Stromversorgung kappten. Noel hatte für diesen Fall mit Taschenlampen vorgesorgt. Wenn jeweils nur eine in Betrieb war, reichte der Vorrat für ein paar Tage aus.
Eben noch hatte Stellring den Philipinos Komplimente für die solide Abstützung des Zugangstors gemacht, da setzte das dumpfe Hämmern der großen Maschine wieder ein. Noch klang es leiser als wenn das Schiff in Bewegung war. Nur Leerlauf, dachte er aber das hieß, die Entführer hatten den Motor mit eigenen Mitteln wieder in Betrieb genommen. Er sah Hansen mißtrauisch an:
“Sehr lange haben unsere Freunde oben nicht gebraucht. Wenn die Maschine jetzt schon läuft, setzen sie wahrscheinlich auch die Steuerung in Gang.” Es schien, der Kapitän wich aus oder er hatte die Frage wegen des Lärms nicht verstanden. Auch Jacob schien alarmiert:
“Wie ist das möglich, Herr Kapitän?” Hansen kämpfte mit seinen Worten gegen den Lärm der Maschine an:
“Unglaublich. Vielleicht haben sie Handbücher gängiger Steuerungen dabei. Oder sie halten über Telephon Kontakt mit Komplizen, die mit diesen Systemen sehr vertraut sind.” Er wischte sich die Stirn. Der Schiffsdiesel änderte den Klang. Die Vibration war nicht länger als eine halbe Stunde ausgesetzt gewesen. Jetzt erfaßten sie wieder das ganze Schiff. Das lästige Geräusch der letzten Tage und Nächte war zurückgekehrt, hier unten noch stärker als in den Oberdecks und in Brückennähe. Die Mannschaften hatten sich in ihrem Raum auch wegen des Lärms nie länger als nötig aufgehalten.
Leerlauf, noch brachte die Maschine keine Leistung für den Fahrbetrieb. Der Maschinist hatte Luc und Gerd am ersten Tag, noch ehe der Ärger begonnen hatte, durch das Schiff geführt. Danach war der Mann krank geworden und hatte die Fahrt abgesagt. Der Antriebsdiesel stand gekapselt in einem eigenen Raum auf dem zweiten der fünf Decks. Sie hatten vor dem Eintritt in den Maschinenraum Ohrschützer angelegt. Die Schutzkappen wären jetzt auch im Versteck von Nutzen, aber um sie heranzuschaffen hatte die Zeit für Tran und seine Leute nicht gereicht.
Der gedämpfte Klang hellte sich auf. Die Entführer fuhren die Maschine hoch. Daneben ein anderes, leiseres Geräusch, das nicht bis zur Brücke reichte: eine schwache Unwucht der Schraubenachse und das Rauschen der Heckwelle hinter den Propellern. Das gleiche Gefühl wie vorher schon wenn er sich hier kurz aufgehalten hatte, stellte sich wieder ein: Stellring glaubte auf der Haut zu spüren wie die Maschine wilde Kräfte auf die Schrauben übertrug. Den Eingeschlossenen nicht sichtbar, warf die “Stolzenfels” jetzt wie vor der Kaperung eine schäumende Bugwelle auf. Kein Kunststück, den neuen Kurs zu erraten. Luc Haanen rief mit gespielter Munterkeit:
“Schiff ahoj, jetzt heißt es zurück nach Afrika! Kapitän, Sie haben unsere Entführer unterschätzt. Die neue Brückenwache fährt das Schiff auch ohne Schlüssel und Zugangscode. Die reguläre Besatzung überläßt man hinter ihrer Verschanzung bis zum Sankt Nimmerleinstag sich selbst.”
Das Schiff setzte mit neuem Kurs die Reise fort. Die Besatzung saß in der Falle. Gerd Stellring rief sich die letzten Tage in Erinnerung. Ehe er und Luc an Bord gegangen waren, hatten sie die beiden Mädchen, Sarina und Annette zum Flughafen Beira begleitet. Die Beiden mußten inzwischen schon zurück in Europa sein. Atmeten frischere Luft und verspürten wieder die Kühle der temperierten Zone nach der wochenlangen Hitzefahrt durch Afrika. Seit der Trennung am Flugsteig in Beira wurde Stellring Sarinas Fehlen jeden Tag schmerzlicher bewußt. Hätte der Kapitän ihm das Satellitentelephon nicht abgeschlagen, wenigstens ihre Stimme hätte er dann und wann im Ohr. Der Steuermann der “Stolzenfels” hatte sich auf seine Anweisungen berufen und die Überlassung für Privatgespräche abgelehnt.
Der Kapitän war an der früh eingetretenen Verstimmung schuld. Hansen war entweder aus unbekanntem Grund ein Menschenfeind, zerfallen mit sich und der Welt, oder er kam mit der Hitze nicht zurecht. Wahrscheinlich hatte er sich vom Einsatz seiner nicht zahlender Passagiere mehr versprochen. Jacob hatte ihm und Luc und den drei Philipinos Bürsten, Pinsel und Farbtöpfe hingestellt und einen Deckanstrich der Aufbauten verlangt. Ein Ansinnen, das ihnen nicht unbillig erschienen war. Stellring und sein Freund hatten beim Anheuern nicht erwartet, sie erhielten die Passage ohne Gegenleistung. Sie teilten sich zu zweit eine winzige Kabine, waren froh gewesen, der Kapitän hatte ihrer Mitfahrt zugestimmt. Formalitäten waren vermieden worden, er hatte sich Fragen nach ihrem Versicherungsschutz geschenkt, nur vorsorglich verlangt, daß eine Verzichtserklärung auf Ansprüche bei Unfällen oder einer Erkrankung unterschrieben wurde.
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