Alle Hoffnung ruhte auf dem Erfolg der Notmaßnahmen. Hatte die Zeit gereicht, war der Rückzugsraum vorbereitet? Unberechtigt war die Hoffnung nicht. Zumindest auf Jacob war Verlaß. Der Steuermann hatte wie abgesprochen inzwischen die Maschine auf Null gestellt. Der Kapitän durfte darauf vertrauen, auch Schiffskasse und die schriftlichen Unterlagen waren in Sicherheit gebracht. Er würde der letzte der Besatzung sein, der das Versteck aufsuchte, hatte sich vorbehalten, er nehme vorher die Hauptschlüssel für Antrieb und Steuerung an sich und bringe sie persönlich mit. Besser wäre vielleicht gewesen, er hätte Jacob auch den letzten Schritt bei der Stilllegung des Schiffs übertragen. Man hatte die Aufgaben in der Eile einmal so verteilt und noch war Hansen war zuversichtlich, daß ihm dieser letzte Schritt gelang. Eine Katastrophe wenn die Schlüssel den Piraten in die Hände fiele! Schon allein um die Schlüssel in Besitz zu nehmen, konnte er an diesem Platz nicht bleiben. Keine sinnlose Heldenpose den Gangstern gegenüber, der Reeder hatte es vorhin selbst gesagt! Längeres Warten bis zum Rückzug war nicht mehr erlaubt.
Noch hatte unten niemand die Strickleiter außenbords betreten. Sein nicht zahlender und zudem großmäuliger Passagier Stellring trat neben ihn. Hansen hatte die Bitte des Reeders zur Aufnahme der arroganten Burschen schon am ersten Tag der Fahrt verwünscht. Ohne irgendwelche private Beziehungen zur Familie der Eigentümer hätten sie das nicht geschafft. Stellring beobachtete den Ablauf unten auf den Booten nicht mit Empörung wie der Kapitän sondern dem Anschein nach kühl distanziert. Deutlicher konnte man seine Ignoranz nicht zeigen! Der Kapitän fuhr den Passagier wütend an:
“Die Rübe runter, in Deckung Mann, wie weit seid Ihr mit dem Versteck?” Stellring blieb an der Reling stehen.
“Die Leute schießen doch wie gesehen nur auf das Schiff. Warum sollten sie sinnlos Blut vergießen? Wissen anscheinend, daß wir unbewaffnet sind. Unser Versteck? Sein Sie beruhigt, alles was Tran uns an Material genannt hat, ist jetzt dort macht den Raum aber nicht wohnlicher.”
“Hat Jacob die Unterlagen weggeschafft?”
“Ist noch dabei. Ich gebe nochmal zu bedenken, mit dem was Noel aus der Kombüse geholt hat, halten wir eine Belagerung nicht lange durch. Ohne Kühlung ist das meiste nach einer Nacht verdorben. Ich mache mir Sorgen um eine anständige Verpflegung, die Hygiene betreffend gehen wir mit offenen Augen auf einen Notstand zu.”
“Halts Maul Stellring und verschwinde. Wenn Du dich beeilst, bist du in Deckung, ehe einer der Gangster dich erwischt.” Stellring wandte sich ohne Eile in Richtung Zugang zum Mannschaftsraum. Gleich darauf feuerte jemand unten zwei Schüsse ab. Einer verfehlte sein Ziel nur knapp und durchschlug das schwache Verkleidungsblech, das hier oben innen von außen trennte, der andere strich ein Stück weit neben Stellrings Rücken über das Schiff. Stellring wurde blass. Er kam Hansens Empfehlung schnell nach und duckte sich erschreckt. Von der Rückseite der Brücke aus, unsichtbar für die Leute auf den Booten hinter der Tür versteckt, fragte er nach, wie er sich nützlich machen könne. Ein unfreundliches “Verschwinde endlich” kam zurück. Hansen schob nach: “Sofort jetzt in unseren Rückzugsraum! Gib den anderen Bescheid, ich komme gleich anschließend nach.”
Ibrahim hatte noch vor den Schüssen ein paar Worte mit dem zweiten Anführer gewechselt, der allein im größeren Boot zurückgeblieben war. Noch während Hansen mit Stellring stritt, griff er in die Strickleiter und stieg mit schneller Bewegung die Sprossen hoch. Mit einem Schwung, unbehelligt von Hansen, war die Reling überwunden. Erlegte auf Hansen an und forderte die anderen im Boot zum Folgen auf. Das Zwischenspiel mit seinem ungeliebten Passagier hatte Hansen abgelenkt. Wenn er jetzt weglief, bot er dem Piraten ein leichtes Ziel. Der richtige Augenblick für den Rückzug war verpaßt. Zwei von Ibrahims Begleitern enterten mit umgehängter Waffe. Ibrahim ging auf Hansen zu und sprach ihn an:
“Ihre Leute haben sich versteckt. Wir hatten Sie gewarnt. Sie machen uns unnötig Schwierigkeiten, Gehen Sie voran.” Wer mache hier wem Schwierigkeiten?, gab Hansen zurück. Er habe sich zur Überlassung von Proviant bereit erklärt. Noch während er sprach, war ihm der Fehler bewußt geworden. Sein Leichtsinn war fast unbegreiflich gewesen, das Versäumnis ließ sich kaum noch korrigieren. Die Chance zum Sicherstellen der Schlüssel war verpaßt. Längst vorher müßten die Hauptschlüssel von der Brücke unten im Versteck gewesen sein. Eine kleine Hoffnung blieb: mit mehr Umsicht als er selbst bewiesen hatte, hatte Jacob die Gefahr erkannt und an seiner statt gehandelt. Wenn nicht, dann hatten die Piraten grünes Licht für die Weiterfahrt nach Belieben mit seinem Schiff.
Hansen und Ibrahim erreichten den Steuerstand. Drei der vier Schlüssel waren auf Null gestellt aber alle vier steckten an ihrem Platz. Das Regal mit der Betriebsanweisung, den Seekarten und Unterlagen zur Navigation war leergeräumt. Die kleine Hilfsmaschine für Lüftung und Beleuchtung lief. Die Afrikaner sahen sich interessiert und ohne Eile in der Kommandostelle des Schiffes um. Hansen erkannte und nutzte die Gelegenheit. Hinter dem Zugang mittschiffs führte eine kleine Treppe mit drei Stufen zu einem schmalen Gang. Nach ein paar Metern im rechten Winkel die Verzweigung nach Steuerbord und Backbord. Jeweils am Ende führte steile Treppen zu den Unterdecks. Er genoß hier Heimvorteil. Freies Schußfeld bot sich einem Verfolger nicht.
Die enge Wendeltreppen auf Stahlgestell waren als Notbehelf gedacht. Gewöhnlich zogen Jacob und er den Aufzug zum Erreichen der Brücke vor. Vielleicht die letzte Gelegenheit, den Banditen zu entkommen. Hansen sprang die zwei Schritte zur Tür und warf sie hinter sich ins Schloß. Eine Verriegelung solcher Zugänge besaß heute jedes moderne Schiff, seines nicht. Niemand hatte beim Bau der Stolzenfels vor dreißig Jahren die Sicherung gegen unbefugtes Eindringen als nötig angesehen.
Ibrahim wendete einen Augenblick zu spät den Blick von der Steueranlage ab, dann befahl er den Begleiter durch eine Kopfbewegung, man setzte dem alten Mann unverzüglich nach. Die Enge der Treppen und Gänge machten es den Verfolgern schwer. Hansen glich fehlendes Tempo durch Kenntnis der Wegeführung aus, seine Flucht gelang. Außer Atem langte er in der Mannschaftsmesse an. Die komplette Besatzung der “Stolzenfels” hatte sich versammelt. Keiner seiner Leute konnte wissen, wie knapp er den Verfolgern entkommen war.
Die Mannschaft einschließlich Stellring und Luc begrüßte ihren Kapitän. Hinter Hansen schloß sich ein solides Tor aus Stahl. Er hatte einen wichtigen Umstand richtig in Erinnerung gehabt: Wenn es nicht wie jetzt nach seinem Eintritt blockiert wurde, schwangen die Flügel nach innen auf. Noel hatte sich als Zimmermann bewährt: beide Flügel waren mit verkeilten Planken abgestützt. Solide Arbeit, hatte Jacob nach dem Eintreten gesagt.
Man mußte nicht lange warten, bis außerhalb von Ibrahims Leuten zu hören war. Schritte näherten sich, hielten aber nicht an. Ihr Tor war nicht das einzige, hinter der ein Versteck in Frage kam. Die “Stolzenfels” war ein mittelgroßes Schiff, für Stückguttransport entworfen ehe die Ära der Container angebrochen war. Zu ihren besten Zeiten wurde nicht nur Laderaum für Massengüter sondern auch einzelne Zellen für Fracht von höherem Wert gechartert. Solche Zellen wurden kaum noch nachgefragt. Sie waren zuletzt meistens leer geblieben, so auch auf dieser Fahrt.
Die Stimmung bei Hansens Eintritt war bedrückt. Durfte er anderes erwarten? Solange draußen Stimmen und Schritte zu hören waren, sprach keiner ein lautes Wort. Der Kapitän blickte sich um und sah außer seinen verzagten Leuten in einer Ecke auf einem Tisch Proviant gestapelt, daneben entlang der Wand aufgereiht sechs Eimer randvoll gefüllt mit Wasser. Auf dem Regal, als Ablage für Gläser und Eßgeschir, Öljacken, Handschuhe und Helme seiner Mannschaft vorgesehen, erkannte er die Ordner mit den Unterlagen. Unter normalen Bedingungen wurden sie im Safe in in der Kapitänskajüte aufbewahrt. Vom Normalfall war man jetzt weit entfernt. Der große Tisch hatte immer die Mitte des Raumes eingenommen. Seine Leute hatten ihn quer vor die Rückwand des Raumes gelegt und mit Balken zur Abstützung des Tors verkeilt. Tran und sein kleines Kommando hatten sich nicht geschont. Seitlich anschließend war kleineres Gerät und Werkzeug auf dem Boden aufgestapelt, immer mitgeführt für kleinere Reparaturen auf seinem Schiff. Soweit er sich entsinnen konnte, wurde das Zeug fast nie gebraucht, jedenfalls nicht in seiner Gegenwart. Er hatte sich um solche Kleinigkeiten nie geschert. Drei Feldbetten standen bereit, dazu ein Drehsessel für jede Person im Raum. Ein wüster Verhau trotz aller Mühe, die sich die Leute gegeben hatten. Angenehm oder auch nur für einen längeren Aufenthalt zumutbar würde der Raum für keinen der Bewohner sein. Als draußen Stille eingetreten war, meldete sich Jacob:
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