Luc hatte wahrscheinlich recht. Auch ein gemeinsamer Fluchtversuch wäre nicht weniger aussichtslos. Sie standen auf und gingen hinüber zum großen Wassertank hinter dem Eingang der Vorratshütte. Erhielten dort unaufgefordert kleine Krüge überreicht, löschten erst den Durst und gossen dann den Rest wie bei den Einheimischen beobachtet über dem Zeltdach aus. Sie wühlten aus den Rucksäcken Seife und Zahnpasta heraus.
Hansen und Achmad trafen sich zu einer Unterredung. Der Wächter, die Waffe in der Hand, hatte den Kapitän durch eine Geste zum Folgen aufgefordert. Der Kapitän stand dem Entführer seines Schiffes in der großen Hütte gegenüber. Es war kühl im Vergleich zur immer noch starken Hitze außerhalb. Alle hatten bemerkt, daß in der Nähe aber nicht sichtbar ein Generator lief. Kein Zweifel, eine Klimaanlage war in Betrieb, man verfügte hier über Strom. Der Kapitän. Möge bei seinem Reeder Meldung machen, er selbst und die Besatzung seien wohlauf aber in der Gewalt eines Kommandos. Die “Stolzenfels “ liege nahe der Küste vor Anker und sei unversehrt. Er möge Ankündigen, die Organisation nehme in Kürze selbst den Kontakt auf. Nur diese Sätze und nicht ein Wort mehr! Achmad übergab dem Kapitän das Satellitentelephon. Man verband Hansen in der Zentrale mit dem Seniorchef der Reederei, mit dem er sich gut verstand. Gleich nach Hansens Namensnennung überfiel ihn der Mann mit Fragen:
“Ah, Hansen, das Hilfsschiff hat Sie rechtzeitig erreicht? Sie rufen mich von wo aus an? Können Sie frei sprechen oder werden Sie bedroht?” Der Reeder sprach Deutsch mit seinem Kapitän. Hansen konnte noch zurückgeben, er stehe unter bewaffneter Bewachung. Achmad verstand die Sprache nicht. Mit einer unwilligen Geste forderte er zum Gebrauch der englischen Sprache auf.
Hansen kam der Aufforderung nach und sprach das Gewünschte Satz für Satz. Sein oberster Firmenchef hörte die Botschaft. Die Antwort wieder auf Deutsch: die Sicherheit der Leute gehe unter allen Umständen vor. Die Kosten seien wahrscheinlich... Das Gespräch brach ab. Achmad hatte Hansen den Hörer abgenommen und die Verbindung unterbrochen.
Der Kapitän nahm die Maßregelung resignierend hin. Das Kommando übten hier und jetzt andere aus. Die Verhandlung mit der Versicherung würden an ihm vorbei geführt. Der Führungsmann der Piraten hatte erwähnt, eine Organisation stecke hinter der Entführung. Mittelsleute würden eingeschaltet werden. Man würde halb-oder ganz verdeckte Treffen einberufen. Das Ergebnis war absehbar: eine Vereinbarung, mit der die Reederei sich der Erpressung beugen würde. Der Reeder würde darauf bestehen, daß sein Schiff so schnell wie möglich freigegeben wurde. Noch lieber wäre ihm vielleicht eine Entschädigung für Komplettverlust. Er würde für einen anständigen Betrag wahrscheinlich nicht ungern auf den betagten Kahn verzichten.
Die Strafverfolgung interessierte den Reeder jedenfalls nur in zweiter Linie. Man war auf somalischem Staatsgebiet in Gefangenschaft geraten. Der Chef zu Hause wußte, Justiz und Völkerrecht galten wenig bis nichts auf diesem Territorium. Dieses Gebilde Staat zu nennen hieße hochzustapeln. Auf dem Seegebiet vor seiner Küste war nach langem Zögern ein Versuch zum Schutz der Schifffahrt angelaufen. Die „Atalanta“ Mission hatte den Zeitpunkt zum Eingreifen verpaßt. Sein Schiff lag hier vor Anker und Wenn eine Entführung bis nahe an die Küste gelangt war, schien es aus nicht erklärbarem Grund immer für ein Eingreifen zu spät. Warum hatte man bisher nie von einem Angriff auf einen Piratenstützpunkte an Land Piraten gehört?Wahrscheinlich sah die “Atalanta” von solchen Attacken wegen Gefährdung der gefangenen Besatzung ab.
Seine schwache Rolle in diesem Trauerspiel war ausgespielt. Hansen nahm sich erneut vor, er weihe in Kürze Jacob, aber nicht die anderen Leute in die Umstände der Übernahme seines Schiffes ein.
Am nächsten Tag liefen die beiden schnellen Boote wieder aus. Nicht mit den Somaliern bemannt, die die “Stolzenfels” gekapert hatten. Von Süden her waren eine neue Besatzung, acht Mann stark, mit einem kleinen und langsamen Fischerboot am Morgen angekommen. Stellring hatte die Annäherung beobachtet, das Boot hatte sich nahe der Küste gehalten, auf dem leeren, nur schwach bewegten Meer. Der Trupp, der die “Stolzenfels” gekapert hatte, ruhe sich nach dem erfolgreichen Einsatz anscheinend zunächst aus, hatte Luc bemerkt. Nach einer Besprechung mit Achmad und Ibrahim waren die eben erst Eingetroffenen an Bord der Schnellbooten gegangen und hatten sich schnell in Richtung auf das offene Meer entfernt. Das kleine Boot, mit dem sie gekommen waren, ließen sie zurück.
Hansen hatte am Vortag Achmad um eine Vergünstigung gebeten: ob man für die Dauer der Wartezeit seinen Leuten die Rückkehr auf ihr Schiff gestatte? Achmad hatte gelacht und abgelehnt. Er selbst und ein paar andere hätten dort schon Quartier genommen. Daß eine Besatzung wie die der “Stolzenfels” an Land zu bleiben habe, sei eine der Grundregeln seiner Organisation. Nicht aus Angst vor Fluchtversuchen sondern als Schutzvorkehrung gegen die Versuchung Dritter zu einem Angriff auf das Camp von See aus oder aus der Luft.
Achmad habe wieder aufdringlich eine scheinbar noble Haltung herausgekehrt, berichtete er Jacob. Der Aufenthalt in in seinem Land Somalia solle so angenehm für Hansen sein wie von den Umständen erlaubt. Wo immer möglich, sei er zur Erleichterung ihres Aufenthaltes hier bereit. Man habe sicher inzwischen festgestellt, Nahrungsmittel und Getränke ständen ausreichend zur Verfügung. Im Blick auf Hygiene und Bequemlichkeit komme man an Abstrichen natürlich nicht vorbei. Hansen finde binnen kurzem noch heraus, das Leben in den ungewohnten Zelten dieser Region sei kein Behelf aus Mangel sondern den Bedingungen hier draußen bestens angepaßt. Seine Leute hätten über die Jahrtausende darin nicht schlecht gelebt. Achmad habe ihm und Jacob dennoch Hoffnung auf ein Klimagerät gemacht.
Wie lange er die Frist einschätze bis man frei sei? Hinge von der Einsicht der Versicherungen ab. Einige Wochen brauche man meistens bis zu einer Einigung, manchmal würden auch Monate daraus. Er verspreche Hansen, man halte ihn über den Zeitablauf auf aktuellem Kenntnisstand. Ein mindestens scheinbar umgänglicher Mensch also, schon der erste Eindruck sei nicht ausschließlich negativ gewesen.
Der Kapitän vertrieb sich mit Jacob die Zeit durch ungezählte Partien Schach. Brett und Figuren stellte Ibrahim. Die Philipinos führten mit großer Ausdauer Gespräche, die kein anderer verstand und tranken große Mengen heißen Tee. Bei niedrigem Sonnenstand früh und abends gingen sie ein immer gleiches Stück am Strand entlang. Das leere Hinterland in Blickweite des Wächters war schnell erkundet. Die Wache versah immer sechs Stunden lang den Aufsichtsdienst, dann wurde sie abgelöst. Der Auftritt der Somalis zeigte betonte Lässigkeit. Jeder einzelne wußte sehr genau, die Gefangenen hatten keine Aussicht auf Entkommen. Nur anfangs hatten Luc und Stellring sich dem Strandgang angeschlossen, später auf die Teilnahme verzichtet. Lucs Einwand: ein allzu leeres Ritual, der Kraftaufwand lohne nicht. Stellring setzte ein Fitnesstraining fort. Lockerungsübungen, Kniebeugen und Liegestütz, so hatten er und Sarina es jeden Morgen auch während der Tour durch Afrika gehalten. Sie griffen zu Büchern in den Stunden vor und nach dem höchsten Sonnenstand in denen sich die Hitze mit mäßig konzentriertem Lesen noch verbinden ließ. Stellring blätterte in Fachbüchern über Freiheitsbewegungen und wirtschaftlichen Entwicklungsstand in Schwellenländern mit Schwerpunkt südliches Afrika. Seine Abschlußarbeit befaßte sich mit der “Auswirkung religiöser Unterschiedlichkeit auf das Erwerbsverhalten bei ethnisch homogener Bevölkerung”. Er hatte im letzten Jahr viel Zeit auf Lektüre und seinen Text verwendet. Daß er jetzt Überdruß empfand, schob er dem Frust über die andauernde Blockade zu.
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