Thomas Böhm
Hans-Georg Gadamer spricht in solchen Fällen von einer Horizontverschmelzung; vermeintlich getrennte Sichtweisen (Vergangenheit - Gegenwart, Autor - Leser usw.) verschmelzen beim Verstehen.
Lesen ist bildend - das wird verkannt. An die Stelle des Lesens tritt die Auslese.
Schlussfolgerung:
Es gibt eine Wahrheit, die sich aus vielen Wahrheiten zusammensetzt. Sowohl literarische, humanistische Bildung, als auch umfassendes naturwissenschaftliches Verständnis sind wichtig. Bei jeder Handlung findet eine fallweise Vernetzung zu einer aktuellen Einheit statt.
Diskurs"kultur" in Deutschland
In einer Rezension von "Werte" (Andreas Urs Sommer: Werte, Stuttgart 2016) geht Michael Pawlik kritisch auf die Inhalte des Buches ein und ergänzt das Bild an vielen Stellen durch eigene Analysen und weiter führende Interpretationen. Es werden die Vorteile, die Werte gegenüber Prinzipien und Normen haben, untersucht: Pluralisierung ist gegeben, sie sind veränderbar, austauschbar, nicht messbar, kaum zu definieren. Es wird behauptet, dass sie gelten; schon die Frage nach einer Begründung, wird als politisch nicht korrekt empfunden. Es ist vorteilhaft, empört oder beleidigt zu sein (zu erscheinen).
Bei Diskursen - falls man sie so nennen kann - besteht in Deutschland die Tendenz, sämtliche Sachfragen in den Wertebereich zu verlagern und sie so zu Moralfragen um zu deklarieren. Jeder kann an dem "Diskurs", der häufig eine Beschimpfung ist, teilnehmen. Emotionen ersetzen Argumente. Problemlösungen werden verhindert. Am leichtesten ist ein solches borniertes Leben in einer abgeschotteter Gemeinschaft Gleichgesinnter (vergleiche USA) zu führen. Die Auswirkungen auf die politische Kultur eines Landes sind verheerend.
Schon diese einfache Übersicht der Bildungsziele zeigt bei näherer Betrachtung aus der Sicht des Individuums Spannungsbögen, die ausbalanciertes Verhalten erfordern:
Begriffe wie Arbeitsmarktverwertbarkeit zeigen, dass es der Wirtschaft nicht um den ganzen Menschen geht, sondern um Humankapital, dessen Arbeitskraft bei Bedarf kurzfristig und preiswert verfügbar sein soll. Deshalb sollte es auch Bildungspolitikern klar sein, dass man die Forderungen der Wirtschaft an Schule und Bildungspläne nicht unbesehen übernehmen kann. Schule und Bildung müssen den ganzen Menschen und sein zukünftiges Leben im Blick haben.
Literatur
Böhm, Thoma: Stell dir vor, da ist kein Himmel, FAZ vom 19.09.2015
Crawford, Mattthew nach Kullmann, Kerstin: Basteln fürs Selbst, Der Spiegel 46/2016
Dewey, John: Die Erneuerung der Philosophie, Hamburg 1989 (verfasst kurz nach dem 1. Weltkrieg)
Dewey, John: Die Suche nach Gewißheit, Frankfurt 1998
Dreyfus, Hubert und Charles Taylor: Die Wiedergewinnung des Realismus, Berlin 2016
Dworkin, Ronald: Gerechtigkeit für Igel, Berlin 2012
Foucault, Michel: Die Sorge um sich, Frankfurt 1986
Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik I, Tübingen 1990
Held, Klaus: Treffpunkt Platon, Stuttgart 2001
Hochkeppel, Willy: Mythos Philosophie, Hamburg 1976
Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt 1993
Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt 2008
Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, Frankfurt 2012 (Erstauflage 1987)
Pawlik, Michael: Zum Juchtenkäfer fällt jedem was ein, FAZ vom 14.09.2016
Popper, Karl. R. und John C. Eccles: Das Ich und sein Gehirn, München 1996 (Erstausgabe 1977)
Popper, Karl R.: Alles Leben ist Problemlösen, München 1995
Rawls, John: Geschichte der Moralphilosophie, Frankfurt 2002
Rorty, Richard: Wahrheit und Fortschritt, Frankfurt 2000
Schulz, Walter: Philosophie in der veränderten Welt, Stuttgart 1972
Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern, Berlin 2009
Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, Berlin 2010
Sontag, Susan: Against Interpretation, New York 1966
Whitehead, Alfred North: Die Ziele von Erziehung und Bildung, Frankfurt 2012
Teuer und exklusiv
In England ist ein Abschluss an einer Eliteschule (teuere Internate) eine gute Voraussetzung, einen Studienplatz in Oxford oder Cambridge (hohe Studiengebühren) zu erlangen. Mit dem Examen tritt man in das Beziehungsnetz der Ehemaligen ein.
41 Premierminister und knapp 150 Nobelpreisträger studierten in „Oxbridge“. Bei den Premierministern liegt der Schwerpunkt auf Oxford, bei den Nobelpreisträgern deutlich auf Cambridge.
Wie Martin Lanz in einem Artikel in der NZZ vorrechnet, liegen in den USA die Kosten für ein Bachelor - Studium bei 25.000 $ (z.B. für Einheimische an der staatlichen University of Minnesota) und 60.000$ (z.B. an der privaten Princeton University) pro Jahr. Nach dem Studium tritt man nach vier Jahren mit 100.000 $ bzw. 240.000 $ Schulden in das Berufsleben. Wenn man nicht gleich eine Anstellung findet, wird die Lage prekär.
Das jährliche Schulgeld für einen Bachelor ist seit 1995 real um 50% gestiegen. Es gibt zwar Finanzhilfen, die aber nicht mit der Preisentwicklung Schritt halten.
In Frankreich sind die Gymnasien sogar offiziell (in Deutschland nur inoffiziell) unterschiedlich gut. Da man das Gymnasium seines Wohnbezirks besuchen muss, reicht es nicht aus, Geld zu haben (wie in England), sondern man muss zusätzlich im richtigen Einzugsgebiet (mit hohen Immobilienpreisen) wohnen. Um die Aufnahmeprüfung an einer der Pariser Eliteuniversitäten zu bestehen, ist ein teures und stressiges Vorbereitungsjahr (privat finanziert) hilfreich, wenn nicht gar Voraussetzung.
In asiatischen Ländern gibt es ähnliche Verhältnisse. In Japan z.B. ist es wichtig, schon in dem „richtigen“ Kindergarten einen Platz zu erlangen. In Südkorea besuchen Kinder, deren Eltern es sich leisten können (200 - 300 EUR pro Fach und Monat), zusätzlich eine private Nachmittagsschule (etwa 28.000 „Hagwons“ alleine in der Hauptstadt).
Thomas Nipperdey geht auf die Verhältnisse in Deutschland ein. Das humanistische Gymnasium war im 19. Jahrhundert die Regelschule (auch für den Adel) der höheren Bildung in Deutschland. Die Zahl der Abiturienten war gering: In Preußen waren es zwischen 1830 und 1840 etwa 2‰ der Einwohner. Trotzdem kann man das Gymnasium als relativ "offen" bezeichnen, weil es zunächst jeder mit Begabung und den finanziellen Mitteln der Eltern besuchen konnte. Das Schulgeld betrug in Preußen durchschnittlich 50 Mark pro Jahr (ein Volksschullehrer in der Stadt verdiente etwa 750 Mark im Jahr). Die Zahl der höheren Schüler (Jungen!) lag auch deutlich höher als die der Abiturienten - in der Anfangszeit des Gymnasiums waren Frühabgänger ("Einjähriges") typisch. Das Schulgeld war eine Barriere, aber auch ein Schleuse des sozialen Aufstiegs, falls Eltern der Mittelschicht zu dem finanziellen Opfer bereit waren.
Das Gymnasium war in seinen Stoffen - den alten Sprachen, der Literatur, dem unmittelbar Nutzlosen - exklusiv. Das hielt die Unterschicht und große Teile der Mittelschicht fern, aber auch Jungen aus Handwerkerfamilien und Kinder von Kaufleuten und Unternehmern.
Ab 1850 mehrten sich die kritischen Stimmen, aber eine große Lobby verhinderte Veränderungen und das Unwahrscheinliche geschah: die Regelschule der höheren Bildung blieb das humanistische Gymnasium.
Das Unwahrscheinliche setzt sich bis heute fort. Bis auf den Austausch der alten Sprachen durch moderne hat sich an den Stundentafeln kaum etwas geändert.
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