Platon strebte an, dass seine Schüler die reinen, vollkommenen Ideen erkennen und sie mit ihrer konkreten Lebenswirklichkeit in Beziehung setzten. Diese Einsicht und die daraus resultierenden inneren Überzeugungen zusammen mit Rhetorikübungen sollten sie befähigen, in der Polis die Politik mitzubestimmen. Damit diente Bildung der Erhaltung der Demokratie - und war damit aber automatisch auf die wenigen freien Bürger (freie Bürgerinnen gab es nicht) beschränkt. Platons Schule vermittelte Wertvorstellungen und „Gutredenkönnen“.
In dieser Zeit gab es noch andere Schulgründungen, unter denen die des Isokrates besondere Bedeutung erlangte. Er verzichtete auf die philosophischen Grundlagen und hatte das pragmatischere Ziel, seine Schüler in die Lage zu versetzen, politische Ziele in öffentlichen Debatten und Reden durchzusetzen. Seine Schule erzog zu einer konkreten politischen Urteilsfähigkeit und „Überredenkönnen“. Dieses sophistische Bildungsverständnis setzte Bildung mit Ausbildung gleich, die dazu befähigte, mehr durch rhetorische Kniffe als durch Argumente politische Mehrheiten zu gewinnen. Outputorientierte Kompetenzen werden angestrebt, Persönlichkeitsbildung wird vernachlässigt.
Mit dem Verlust der Selbständigkeit der Polis (Alexander der Große, Diadochen) entfiel der Bezug zur Lebenswirklichkeit und die Schulen wanden sich einem feuilletonistischen Sprach- und Literaturunterricht zu: Man lernte, über alle möglichen mehr oder weniger lebensfremden Themen Vorträge zu halten.
Klaus Held beschreibt, wie Cicero später den Ansatz des Isokrates aufgriff; er erweiterte ihn wieder um eine platonisch-philosophische Komponente. Als Unterrichtssprache wählte er das Griechische und als Unterrichtsgegenstand griechische Literatur, weil hier der Logosbesitz entdeckt worden war. Beides trug wesentlich dazu bei, dass sich Bildung endgültig vom realen politischen Leben entfernte und zum reinen Literaturunterricht wurde.
Bald wurde "cultura animi" für Jahrhunderte von der zentralen Macht (Kaiser, Landesfürst und Kirche, Papst) übernommen, die die Ordnung aller Lebensbereiche reglementierte und verwaltete. Auf den Mittelpunkt bezog sich alles, von ihm ging die Steuerung aus. Da alles so war, "wie Gott es gewollt hatte", herrschte auf allen Gebieten Stillstand. Das Individuum wurde bedeutungslos, es "verschwand".
In den Stadtstaaten Oberitaliens wurde das Individuum in der Renaissance "wiedergeboren". In den folgenden Jahrhunderten mussten alle persönlichen Freiheiten (Religions-, Meinungs-, Rede-, Wissenschaftsfreiheit, Freizügigkeit, Gewerbe-, Niederlassungsfreiheit, ... die Grundrechte) nach und nach mühsam erkämpft werden - das wurde erst durch Dezentrierung der Macht möglich. Durch die Romantik als Reaktion auf die totalen Deutungsansprüchen der Naturwissenschaften gewann das Individuum später weiter an Bedeutung: es soll die Welt durch individuelle Anschauung erfassen.
Nach Nietzsche ("Gott ist tot"), Heidegger und Sartre ist das Individuum, wenn es vom Glauben abgefallen ist, nun wieder in einer Situation, die der der "Freien" in der Polis entspricht: Die Identitätsentwicklung (Selbstwahrnehmung - Selbstkonzept, Selbstbewertung - Selbstwertgefühl, Fähigkeit zum interaktiven Handeln) wird zur Lebensaufgabe, der Lebenslauf zum Lernfeld. Schon in frühen Lebensjahren werden - in Abhängigkeit von der Familie und der Sprachentwicklung - Eigenschaften (Resilienzfaktoren) erworben, die im weiteren Leben die Bildungsmöglichkeiten (mit)bestimmen.
Mit der Freiheit fängt alles an. Es ist Disziplin nötig. Den Pflichten gegen sich selbst korrespondieren keine einklagbaren Rechte. Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen.
Die Konstruktion und Erweiterung des Selbst ist eine Lebensaufgabe. Es muss aber nicht nur gepflegt, sondern auch geschützt werden. Im heutigen Berufsleben ist man ständig erreichbar und immer unterwegs - körperlich im öffentlichen Raum und der Arbeitswelt und geistig in den virtuellen Welten. Überall wird man bedrängt - Werbung verlangt Aufmerksamkeit, jeden Moment will irgendjemand zu Geld machen.
Man kann versuchen Werbung einzudämmen, die Smartphonenutzung einzuschränken usw. - man entgeht der Werbung aber nicht vollständig.
Matthew Crawford plädiert deshalb für die Errichtung und Verteidigung eines zeitweise total abgeschirmten Privatraums. In dieser Zeit lenkt das Individuum unbeeinflusst seine Aufmerksamkeit und kann zu sich selbst finden. Der Philosoph und Motorradmechaniker empfiehlt, in dieser Zeit etwas mit den Händen zu schaffen. Dieses planende und ausführende Konstruieren, Reparieren, Stricken, Kochen, Malen, Zeichnen, Gärtnern, Musik Einüben usw. soll mit der Hilfe von Geräten, Instrumenten und Werkzeugen zu einem greifbaren Produkt führen, mit dem man zufrieden ist. "Nebenbei" hat man für diese Zeit sein Recht durchgesetzt, in Ruhe gelassen zu werden. Man ist einer persönlichen Vorliebe gefolgt und war für diese Zeit dem Social Engineering entzogen.
Hat man im Freiraum die positive Erfahrung erlebt, die eigene Aufmerksamkeit alleine zu steuern, so kann das für die restliche Zeit wappnen.
Bildung wozu?
Bildung ist "unser" höchstes Gut! Zumindest in den Sonntagsreden der Politiker. Aber was Bildung sein soll, darüber gibt es keine Einigkeit. Es wird ein Bürgerrecht auf Bildung gefordert, aber wie das im Schulalltag gewährleistet werden soll, bleibt unklar.
Versucht man an Platon anzuknüpfen und das zu bilden, was den Menschen ausmacht, so gelangt man zur "Kultur" als Gesamtheit derjenigen Leistungen und Orientierungen des Menschen, die seine bloße Natur fortentwickeln und überschreiten. Da in Deutschland Naturwissenschaften und Technik nicht zur Kultur gehören, sondern zur "Zivilisation", ist der Kulturbegriff nicht zur Definition von Bildung geeignet. Dazu kommt, dass "die deutsche Kultur" den Faschismus nicht verhindert hat. Die allgemeine Klassiker–Lesepflicht, die die Gymnasialideologie durchgesetzt hatte und weiter aufrecht hält, schützt nicht vor Bestialisierung. Einen Kanon abzuarbeiten und jedes Werk "richtig" zu interpretieren, reicht eben nicht.
Ersetzt man Kultur durch Gesellschaft, so hat man ähnliche Probleme. Die nach dem Krieg aufgestellten Gesellschaftsmodelle sind alle nutzlos, da sie ohne vorherige genaue Analyse als Systeme entworfen wurden und die Wirklichkeit sich empörender weise nicht an die Modelle hält. Während die Forschungsgelder in eindeutiger Weise umgeschichtet und geisteswissenschaftliche Lehrstühle umgewidmet werden, man über das "Anthropozän" diskutiert, die Lebenswissenschaften unser aller Leben bestimmen, wissen die Philosophen und Sozialwissenschaftler alleine, wie die Welt beschaffen ist.
Wenn man auf theoretischen Wegen nicht zu einem Bildungskonzept kommt, sollte man sich der Situation des Menschen zuwenden. Welche Fähigkeiten und Kenntnisse benötigt der Mensch, um in der globalen Welt zu leben und zu handeln?
Die dazu nötige genaue und tiefgehende Analyse der "Philosophie in der veränderten Welt" hat Walter Schulz in großartiger Form geleistet. Er war die Ausnahmeerscheinung mit dem umfassenden Überblick.
Es muss ein Bildungsrahmen entworfen werden, der die folgenden Problemfelder umfasst.
1. Skizze zur Konkretisierung
Die Dynamik im Handlungsraum erfordert zwei Bildungsfelder
Pflanzen und Tiere leben in ihrer Umwelt, der Mensch hat Welt, ist in der Welt und kann sie beeinflussen und gestalten.
Die folgenden Überlegungen gehen auf den Entwurf "Soziale Systeme" von Niklas Luhmann zurück. Er analysiert die Funktionsweise und betont die Entwicklungsfähigkeit der Systeme ("Evolution").
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