Ulrich Grober
DIE ENTDECKUNG DER
NACHHALTIGKEIT
Kulturgeschichte eines Begriffs
Verlag Antje Kunstmann
EINS »… EINE ANGEBORENE FÄHIGKEIT«?
Prolog
ZWEI EIN SPERRIGER BEGRIFF
Begriffsverwirrung
Wortkörper
Formelsammlung
DREI »… DER SCHÖNSTE STERN AM FIRMAMENT«
Ikone Erde
Stummer Frühling
Schrei des Schmetterlings
Die Pyramide der Bedürfnisse
Die Imagination an die Macht
VIER URTEXTE
Sonnengesang
Die Schöpfung bewahren
Mord an Mutter Erde
FÜNF EIN EUROPÄISCHER TRAUM
Astronautenperspektive 1440–1634
Aus den Fugen
Modell Descartes
Modell Spinoza
Die beste aller Welten
SECHS VIRTUOSEN
Die Wälder der Serenissima
»…manage the woods discreetly!«
Die Forstreform des Sonnenkönigs
SIEBEN DIE WORTSCHÖPFUNG
Ein barockes Silicon Valley
»… ein purer Spinozist«
Ein sächsischer Europäer
Wortschöpfung
Das Dreieck der Nachhaltigkeit
Blick nach Fernost
Versuchsfeld Weimar
In Goethes Wäldern
ACHT DIE GEBURT DER ÖKOLOGIE
Linnés »oeconomia naturae«
Kosmos Weimar
»… ein Stern unter Sternen«
Lieder der Erde
Gegenentwürfe
Der erste Ökologe
»Oecologie« definieren
Umwelt und Entwicklung
NEUN DIE VERMESSUNG DER WÄLDER
100 Hektar Urwald
Märchenwald und Realität
Die Arbeit am Begriff
Hochschule für Nachhaltigkeit
Den Forst »einrichten«
Der »normale« Wald
Frühe Warnungen
Die unsichtbare Hand des Marktes
Die Erfindung des Schädlings
ZEHN FOSSIL, NUKLEAR, SOLAR
Holzmangel und »sea-coal«
Die unterirdischen Wälder
Tickende Zeitbombe
Solares Zeitalter
»Heller als 1000 Sonnen«
Die Entdeckung der Photovoltaik
ELF »NACHHALTIG« ÜBERSETZEN
Der helvetische Weg
Tharandt und Nancy
In den Wäldern des Nordens
»Sustained yield« im Dschungel
Die amerikanische Variante
Angekommen
ZWÖLF ERDPOLITIK I: AUFBRÜCHE
Grenzen des Wachstums
»… ein dauerhaft bewohnbarer Planet«
»Siehe, ich mache alles neu«
Gaia
DREIZEHN ERDPOLITIK II: DER GROSSE WURF
Lebendige Ressourcen
Entwicklung neu denken
Die Brundtland-Formel
Der Geist von Rio
VIERZEHN UND JETZT?
EPILOG
Danksagung
Anmerkungen
Quellen (Auswahl)
EINS
»… EINE ANGEBORENE FÄHIGKEIT«?
Prolog
Die Ernte des Vorjahres war mager ausgefallen. Schon im März 2008 hatte in den Dörfern der Dürregebiete im westlichen Senegal die soudure eingesetzt. Das französische Wort für Schweißnaht, Lötstelle oder – im übertragenen Sinn – für etwas, was überbrückt werden muss, hat im frankofonen Afrika einen besonderen Beiklang. Es bezeichnet die Lücke zwischen dem Zeitpunkt, wo in den Dörfern die Vorräte aus der letzten Ernte zur Neige gehen, und dem Beginn der neuen Ernte. Ngekh sagt man in der Landessprache. Erfahrungsgemäß dauert diese Periode der Mangelernährung von Anfang Juni bis Mitte September. 2008 aber ließ die Regenzeit auf sich warten. Erst spät im Oktober kamen die ersten Früchte der neuen Ernte auf den Tisch.
In vielen Regionen Afrikas wiederholen sich Jahr für Jahr Szenen wie diese: Nach der Ernte füllt jede Familie lederne Säckchen mit Hirse, Gerste oder Reis. So kühl und so trocken wie möglich deponiert sie diese im hintersten Winkel ihres Speichers. Was die Bauern da für später zurücklegen – als Reserve vorhalten –, ist das Saatgut für das kommende Jahr, ihre Lebensversicherung, die einzige, die sie haben. Unsichtbar für begehrliche Blicke, unerreichbar für hungrige Mäuler, bleiben die Säckchen liegen. Auch dann noch, wenn die Erträge der letzten Ernte aufgezehrt sind.
Afrika ist ein großer Lehrmeister. Die menschliche Gemeinschaft, so sagt man hier, bestehe aus denen, die vor uns da waren, denen, die hier und heute leben, und denen, die nach uns kommen. Afrika erzieht zur Resilienz . Das ist die Fähigkeit, Schläge aller Art von sich abfedern zu lassen und Widerstandskräfte zu mobilisieren, um Perioden der Entbehrung nicht nur zu überstehen, sondern aktiv zu überwinden und dabei Lebensmut, Lebensfreude und Freundlichkeit zu bewahren und zu stärken. Die Hollywood-Ikone und Darfur-Aktivistin Mia Farrow sprach von der Resilienz der Seele . Das Wort lässt sich auch mit Unverwüstlichkeit übersetzen. Diese Eigenschaft werden wir in Zukunft dringend brauchen, und zwar überall auf der Welt.
In Zeiten von Dürrekatastrophen – wie in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts – zieht sich die soudure unerträglich lange hin. Dann lautet die eiserne Regel der Überlebenskunst: Bevor du die Rücklagen an Saatgut antastest, verkaufe alle deine Habseligkeiten. Schlachte dein Rind, deine Ziegen. Schicke deine Kinder zum Arbeiten in die Stadt. Geh selbst wandern, um anderswo etwas Geld oder Naturalien zu verdienen. Aber bewahre dein Saatgut. Erst wenn der Hunger lebensbedrohlich wird, hol das Säckchen hervor. Und dann denk lange darüber nach, ob du es öffnest. Wenn die Familien im Sahel und anderen Regionen Afrikas anfangen, ihre Reserven für die kommende Aussaat aufzuzehren, stehen sie am Abgrund. So begann Mitte der achtziger Jahre auf den Straßen und Pisten der Sahelzone ein Exodus, den viele nicht überlebten. Reporter und Helfer berichteten damals, wie Bäuerinnen ihr letztes Säckchen hervorholten und die Hirsekörner mit stolzer Gebärde, als wären es Diamanten, vor ihnen auf den Tisch häuften.
Im Dezember 2008 hörte ich Adama Sarr zu. Der junge Koordinator einer kleinen Nichtregierungsorganisation in einer Trockenregion des Senegals war zu einer Vortragsreise nach Deutschland gekommen. Jeden Abend erzählte er vor einem kleinen Publikum von der soudure . Wie ist unter dem bedrohlichen Vorzeichen des Klimawandels der Teufelskreis des chronischen Hungers zu durchbrechen? Sarr berichtete von den Aktivitäten in den zwölf Dörfern, in denen sein Netzwerk aus Kleinbäuerinnen, Viehzüchtern und Dorflehrern arbeitet. Wie die Mitglieder den Baobab, den Lebensbaum Afrikas, schützen, neue Bäume pflanzen, Hecken anlegen, um die Kulturen vor den heißen Winden zu schützen, wie sie Kleinstkredite beschaffen, den Bau von Kochherden anleiten, welche die offenen, holzfressenden Feuerstellen ersetzen, wie sie Kompostgruben einrichten, Brunnen bohren, die Menschen alphabetisieren. Was das Saatgut angeht, propagiert die Gruppe die Rückkehr zu traditionellen lokalen Kulturpflanzen, den einheimischen Hirsesorten beispielsweise. Denn das importierte industrielle Saatgut ist meist hybrid. Das heißt, es ist gar nicht mehr von selbst keimfähig, also unbrauchbar für die Aussaat.
Welche Vision steht hinter diesen Anstrengungen der senegalesischen Bauernorganisation? In dem Infoblatt, das ich von dem Vortragsabend mit nach Hause nahm, fand ich sie formuliert: accéder à un développement durable. Zu einer nachhaltigen Entwicklung gelangen. *
*
Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden. Zeitlose Weisheit und wunderbare Metapher für Nachhaltigkeit. Sie stammt freilich nicht aus Afrika, sondern aus der Feder Goethes. Der Dichter und Minister eines verarmten deutschen Zwergstaates hat sie aus seiner unmittelbaren Umwelt geschöpft. Die frühen Jahre seiner Amtszeit waren für die bäuerliche Bevölkerung Thüringens von Missernten und Hungersnöten geprägt. Selbst im grünen Herzen Deutschlands spitzte sich damals jeden Frühsommer die soudure zu. Im Juli des Jahres 1779 beispielsweise flehten ganze Dörfer die Weimarer »Cammer«, die herzogliche Finanzbehörde, um Steuererlass an. Man wisse nicht, heißt es in einem Bittbrief aus einem Dorf bei Jena, wo die armen Leute das Saamen Korn zur künftigen Aussaat hernehmen sollten. In jenen Jahren war Goethe als Minister mit der Arbeit der Kammer befasst. Erschüttert berichtete er aus Ilmenau seiner Freundin Charlotte von Stein über die Begegnung mit einem Mann, »der im Elende der Hungernoth seine Frau neben sich in der Scheune sterben« sah und sie »selbst einscharren« musste.
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