„Moment mal, wieso rennst du denn so?“
„Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Ich muss schleunigst in den Laden zurück. Und du hast jetzt einen anderen wichtigen Termin. Ich will dich nicht aufhalten. Vielen Dank für alles, Tom.“
Sie umarmte flüchtig ihren Freund und schoss wie ein Pfeil durch die Filialtür.
Draußen umfing sie wieder dieser eisige Wind, doch Sarah spürte ihn nicht mehr. Noch immer mit offenem Mantel und ohne Mütze und Handschuhe wirbelte sie an die Seite des Gebäudes und lehnte sich an die Hauswand. Mit erhobenem Kopf schaute sie zum grauen Himmel hinauf, schloss die Augen und spürte die Flocken, die einzeln vom Himmel zum Boden tanzten und einige von ihnen auf ihrem Gesicht kleben blieben. Endlich stieß sie die angehaltene Luft aus, die in weißen Nebelschwaden davon schied.
Ihr Herz pochte wild, als sie sich das Bild der beiden in Erinnerung rief.
Sarah hatte Melanie und Daniel hier im Bankgebäude nicht erwartet, weil sie bis Samstag in München sein sollten. Umso mehr war sie überrascht, sie anzutreffen und dann noch in dieser unmissverständlichen Position. Melanie mit schmachtendem Blick auf Daniel. Jeder Blinde konnte sehen, dass sie in diesen Mann verschossen war. Dabei konnte Sarah ihr nicht einmal böse sein, weil es ihr genauso ging. Sarah gestand sich plötzlich ein, dass sie auf diese Frau eifersüchtig war. Auch Melanie war von diesem Mann völlig fasziniert.
Kälte kroch in ihren Körper und das Brennen in ihren Augen wurde schlimmer. Sie blinzelte die aufsteigenden Tränen hinunter, sie musste diesem Mann entkommen. Das konnte sie nur, wenn sie sich dem stellte und der Realität ins Auge sah.
Wie lange sie dort so an der Hauswand lehnte, wusste sie nicht mehr. Entschlossen zog sie mit ihren klammen kalten Fingern das Handy aus der Tasche und drückte die Kurzwahltaste.
„Hallo Mark. Wie geht es dir?“, hauchte sie vor Kälte ins Telefon.
„Sarah. Ich freu mich sehr über deinen Anruf. Ich hatte die Befürchtung, du würdest gar nicht mehr mit mir reden.“
Sie ging nicht auf seine Anspielung ein, sondern fasste nach kurzem Zögern endgültig einen Entschluss. „Gehen wir gemeinsam zu der Party bei den Hochkamps?“ Die Luft anhaltend wartete sie auf seine Reaktion.
„Natürlich. Tom und Jessica holen mich zwanzig vor acht ab, fünf Minuten später sind wir bei dir. Hat Jessica dir noch nicht Bescheid gegeben?“ Seine Stimme klang irritiert.
„Nein, wir haben noch nicht wieder miteinander gesprochen. Heute Abend melde ich mich aber noch mal bei ihr.“ Sarah verdrehte die Augen. Typisch Jessica, immer auf den letzten Drücker.
„Gut. Dann sehen wir uns morgen. Ich muss Schluss machen, Sarah. Ich habe gleich noch eine Stunde Sportunterricht und will danach noch ins Fitnessstudio. Es sei denn, …“ Aber er beendete seinen Satz nicht.
Zögernd stieß sie Luft aus.
Ist schon okay. Dann bis morgen. Tschüss.“ Damit beendete sie schnell das Gespräch, bevor sie es sich noch einmal überlegte. Sarahs Entschluss stand fest.
Sie verstaute ihr Handy in der Manteltasche, um sich auf den Weg zum Laden zu machen. Frau Leitner würde bestimmt schon warten.
Durchgefroren bis auf die Knochen stürmte Sarah regelrecht in den Laden.
„Mann, ist das eisig draußen. Es hat wieder angefangen zu schneien“, berichtete sie so beiläufig wie möglich der anderen Frau.
Frau Leitner eilte ihr entgegen und half ihr aus dem Mantel.
„Kommen Sie, meine Liebe. Ich habe einen Tee vorbereitet, der wird Ihnen sicher guttun. Erzählen Sie mir, wie es in der Bank lief!“
Beide Frauen tranken ihren Tee und Sarah erzählte erleichtert, dass das Gespräch super verlief. Auch Frau Leitner war hocherfreut, zu sehen, dass der jungen Frau eine Last von den Schultern fiel.
Sarah, die ihre kalten Hände um die heiße Teetasse schlang, schaute dankbar auf Frau Leitner. „Haben Sie vielen Dank. Ohne Sie säße ich wahrscheinlich immer noch hier und würde grübeln, wie ich das Problem lösen könnte.“
„Nicht der Rede wert. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort und konnte helfen. Glauben Sie mir, es ist eine Wohltat, anderen Menschen helfen zu können.“
„Aber das ist leider nicht immer selbstverständlich. Ich danke Ihnen auch dafür, dass Sie mir in dieser Woche sehr geholfen haben. Vielleicht kann ich mich irgendwann revanchieren!“
„Nun lassen Sie mal gut sein. Ich hatte hier meine Abwechslung und ein bisschen Spaß, Sarah. Da wir schon einmal bei dem Thema sind, wollte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht meine fachmännische Unterstützung weiterhin annehmen würden, auch wenn es Ihrem Fuß wieder besser geht? Ich möchte mich nicht aufdrängen, aber es wäre mir ein Vergnügen, weiterhin auszuhelfen. Natürlich unentgeltlich. Wie wär’s als Praktikantin?“
Frau Leitner schaute hoffnungsvoll zu Sarah und als sich ihre Blicke trafen, prusteten beide vor Lachen los.
Sarah fing sich als erste und versuchte, mit gespielt ernsthafter Miene zu antworten. „Ich hatte noch nie eine Praktikantin. Also ich kenne die Voraussetzungen nicht, aber das Probearbeiten haben Sie auf jeden Fall bestanden. Von meiner Seite aus steht dem nichts im Wege.“
Abermals lachten beide herzhaft. Sarah freute sich wirklich, Daniels und Richards Großmutter um sich zu haben. Die Frauen hatten sich in dieser Woche sehr gut verstanden, zwischen ihnen wuchs bereits ein freundschaftliches Verhältnis. Sarah hatte das Gefühl, als würde sie diese Frau schon ewig kennen. Sie erinnerte sie an ihre Großmutter Marianne, die ihr immer das Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit gab. Durch die Unterstützung von Frau Leitner konnte Sarah sich vielleicht ein bisschen Freiraum verschaffen, um andere Dinge wie Bankgeschäfte oder wichtige Einkäufe zu erledigen.
Sie besprachen, wie sie zeitlich in der nächsten Woche die neue Praktikantenstelle besetzen wollten, und einigten sich darauf, dass die zukünftige Praktikantin mittwochs und freitags für jeweils zwei Stunden im Laden aushalf, vorausgesetzt, sie hatte keine anderen Verpflichtungen.
„Wunderbar, Sarah, ich freue mich sehr, dass sie meinen Vorschlag angenommen haben.“
Damit stand sie auf und umarmte Sarah glücklich.
„Was gibt es denn hier zu feiern?“, erklang augenblicklich eine angenehme Männerstimme hinter ihnen. Sie hatten gar nicht bemerkt, dass die Ladentür geöffnet und wieder verschlossen wurde.
Hoch gewachsen und dominant schaute Daniel Hochkamp mit einem charmanten Lächeln die Frauen an. Dabei lehnte er gelassen an den Kassentisch und schob seine Hände in die Hosentaschen. Sein Mantel stand offen, sodass ein grauer Designeranzug zum Vorschein kam.
Daniels Großmutter löste sich aus der Umarmung und wirbelte zu ihrem Enkel herum. „Junge, du bist zurück aus München. Dich hätte ich hier nicht erwartet. Gab es Probleme?“
Sie eilte zu ihm, legte ihre Hand an seine Wange und tätschelte sie liebevoll.
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Großmutter, und nein, es gab keine Probleme. Ich wollte nur nach dem Rechten schauen, fahre aber heute Abend nochmal zurück nach München“, informierte er sie, amüsiert durch ihren herzlichen Empfang, und hauchte einen Kuss auf ihre Wange. Er wandte den Blick von seiner Großmutter auf Sarah und spießte sie förmlich mit seinen blaugrauen Augen auf. Die unbeschwerte Stimmung von eben war verflogen. Sarah hatte nicht mit ihm gerechnet, da er eben noch in seinem Büro beschäftigt war. Mit Melanie!
Sarah, die seinen Blick einfing, schoss satte rote Farbe in die Wangen und ihre Knie begannen zu zittern. Sie stützte sich an dem kleinen runden Tisch ab, um nicht ganz die Fassung zu verlieren. Wie vom Donner gerührt verschlug es ihr bei seinem Anblick den Atem und sie musste sich zusammenreißen, um nicht dem Drang nachzugeben, genau wie Frau Leitner diesem Mann entgegenzufliegen, nur um ihm ganz nahe zu sein. Wie schaffte er es nur, sie derart aus dem Gleichgewicht zu bringen?
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