Am Donnerstag nahm Sarah sich kurz vor Mittag frei und wartete in ihrer Wohnung auf den Heizungsmonteur. Frau Leitner würde sicher für eine halbe Stunde ohne sie im Laden zurechtkommen.
Nachdem die Heizung inspiziert wurde und der Monteur die utopische Zahl von zwanzigtausend Euro nannte, die nötig waren, um wieder ein warmes Heim zu haben, musste Sarah schlucken und entließ den Monteur mit der Zusage, sich bei ihm zu melden, wenn sie mit ihrer Bank gesprochen hatte.
Mit dieser hohen Summe hatte sie keinesfalls gerechnet und kehrte völlig niedergeschmettert in den Buchladen zurück. Sie ließ sich in einen der Korbsessel fallen und stützte ihren Kopf auf die Hände.
Frau Leitner erkannte sofort, dass das Ergebnis der Inspektion nicht gut für Sarah ausgefallen war. Da sich keine Kundschaft im Laden aufhielt, ging sie in die Küchennische und holte für beide einen Tee und setzte sich zu Sarah an den Tisch.
„So schlimm?“, fragte sie mitfühlend. Aus ihren Gesprächen mit Sarah hatte sie bereits erfahren, dass die sich mit den Einnahmen, die dieser kleine Laden abwarf, gerade so über Wasser halten konnte. Mit ihren klugen grauen Augen beobachtete sie ihr Gegenüber und nahm dann schließlich Sarahs Hände vom Kopf.
„Was hat der Monteur gesagt, Sarah?“
Sarah, die langsam ihren Kopf hob, schaute in die forschenden Augen von Frau Leitner und stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie lehnte sich in den Sessel zurück und blickte zur Decke.
„Zwanzigtausend Euro. Die Heizungsanlage muss komplett erneuert werden, eine Aufschiebung ist fast nicht mehr möglich, da die Anlage demnächst ihren Geist aufgeben wird.“
Verzweiflung lag in ihrer Stimme, damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.
„Liebe Sarah, es gibt für alles eine Lösung, auch wenn es im Moment nicht danach ausschaut. Sie haben dieses Geld natürlich nicht griffbereit, stimmt’s?“
Feinfühlig wartete sie auf Sarahs Antwort, die sie bereits kannte.
Sarah schüttelte den Kopf und ließ die Schultern hängen. Mit zittrigen Händen nahm sie ihre Teetasse und trank nachdenklich einen Schluck. Die Ladentür öffnete sich und Sarah wollte gerade aufstehen, als Frau Leitner die Hand auf ihre Schulter drückte.
„Lassen Sie mal, ich kümmere mich darum.“
Dankbar blickte sie zu der älteren Dame hinauf, die aufmunternd ihrem Blick begegnete. „Das wird schon.“
Sarah hätte gerne ihre Zuversicht, aber Frau Leitner hatte bestimmt noch nie in so einer Situation gesteckt wie sie im Moment. Die Leitners und Hochkamps waren dafür bekannt, dass sie zu den vermögenden Leuten der Stadt gehörten. Ständig las oder hörte man, dass sie sich mit beträchtlichen Summen an Wohltätigkeits-veranstaltungen und Spendengalas beteiligten.
Als Frau Leitner die Kundin bedient hatte und diese den Laden gerade verließ, kam Richard beschwingt zur Tür herein.
„Guten Tag, die Damen. Ich hoffe, sie hatten eine angenehme Zeit?“
Doch als er Sarahs blasses Gesicht sah, runzelte er die Stirn und trat zu ihr an den Tisch.
„Was ist passiert, Sarah? Du siehst aus, als hättest du den wahrhaft Leibhaftigen gesehen.“
Er ging vor ihr in die Hocke und legte seinen Arm auf ihren. Dabei sah er aus den Augenwinkeln, dass seine Großmutter nun ebenfalls an den Tisch getreten war.
Da Sarah stumm in ihrem Sessel kauerte und aus ihrem Mund kein Ton zu erwarten war, berichtete kurz seine Großmutter von dem Schlamassel mit der Heizung.
„Da lässt sich doch bestimmt etwas machen. Gib nicht so schnell auf. Komm morgen gegen Mittag in unsere Bank und wir schauen, was man da machen kann. Ich bin sicher, wir finden eine Lösung für dein Problem. Du meldest dich einfach bei Tom. Ich werde ihn anweisen, sich deinem Problem anzunehmen und er kümmert sich um alles Weitere. Vertrau mir, das wird schon. Du bist nicht die Erste, die glaubt, vor einer unlösbaren Aufgabe zu stehen. Kopf hoch Sarah, wir lassen dich nicht im Stich.“
Seine Worte ließen Sarah ein bisschen hoffen, und sie dachte an Tom, der ihr solch einen Vorschlag bereits unterbreitet hatte.
„Na sehen Sie, Sarah. Wie ich schon sagte, es gibt immer eine Lösung, auch wenn es manchmal so scheint, als würde die Erde aufhören sich zu drehen.“
Frau Leitner drückte Sarahs Schulter und schaute dabei dankbar ihren Enkel an. „Kopf hoch und nicht verzagen. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Nehmen Sie Richards Angebot an.“
Sarah, die wirklich dankbar war, stand von ihrem Sessel auf und schloss Frau Leitner in die Arme.
„Ich bin so froh, dass Sie da sind“, mehr brachte sie nicht heraus, weil ihre Stimme versagte. In Gedanken war sie bei ihrer Großmutter gewesen, die das Gleiche für sie getan hätte, wäre sie noch unter ihnen.
Sie löste sich aus der Umarmung und verabschiedete sich von Richard und Frau Leitner, da Richard noch wichtige Geschäftstermine hatte. Beim Verlassen des Buchladens schaute er aber noch mal zurück. „Übrigens, ich soll dir liebe Grüße von meinem Bruder ausrichten. Er freut sich sehr darauf, dich am Samstag in unserem Haus wiederzusehen.“
Mit einem wissenden Lächeln zwinkerte Richard ihr zu und verließ den Raum, um seine Großmutter zum Wagen zu begleiten, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte.
Sarahs Kinnlade klappte hinunter, doch das sah er nicht mehr. Sprachlos ging sie zum Kassentisch, beugte sich vorn über auf die Arbeitsplatte und stützte die Hände unter ihrem Kinn. Ihr Blick schweifte in die Ferne.
Im Moment stand ihr Leben auf dem Kopf. Zum einen musste das Problem mit der Heizung endlich gelöst werden, und zum anderen sollte sie sich schleunigst darüber klar werden, was sie in Bezug auf Männer wollte. Denn inzwischen hegte sie den Verdacht, dass ein Platzhirschgerangel zwischen Mark und Daniel im Gange war. Und dabei hatte sie es nicht einmal selbst herauf beschworen! Was ihr am meisten Bauchschmerzen bereitete, waren Daniels Avancen.
Wieso sagte Richard, dass Daniel sich auf ein Wiedersehen freute? Was dachte sich Daniel nur? Melanie war doch die Frau an seiner Seite, machte sie ihn nicht glücklich? Oder war er ein Casanova, der jedem Rockzipfel hinterher lechzte? Ihr Pulsschlag erhöhte sich schwindelerregend, als sie Daniels Anblick vor sich sah. Herr Gott, dieser Mensch war aber auch ausgesprochen attraktiv, das konnte selbst sie nicht leugnen. In seiner Nähe musste einfach jede Frau schwach werden. Sarah durfte nicht zulassen, dass er so viel Besitz von ihr nahm, dass ihr keine Luft mehr zum Atmen blieb.
Entschlossen reckte sie ihr Kinn. Ab sofort würde sie jedes Aufeinandertreffen mit ihm vermeiden und deshalb der Party am Samstag fernbleiben. Ihr würde sicher schon die passende Ausrede einfallen.
Und was war mit Mark? Er gestand ihr zum ersten Mal ganz offen, dass er sie liebte. Aber könnte sie diese Liebe in gleichem Maße erwidern, so wie er es verdiente? Sarah war sich im Klaren, dass sie ihn sehr mochte. Sein leidenschaftlicher Kuss vom letzten Montag hatte sie überrascht und empfand ihn als einfühlsam und angenehm. Doch dieses prickelnde Gefühl, welches sich bei Daniels Küssen blitzartig einstellte, blieb aus.
Mark hatte sich nicht mehr gemeldet, er ließ ihr Zeit und Raum, und sie selbst war nicht in der Lage, mit ihm in Kontakt zu treten. Sie fürchtete sich davor, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, ihm wehtun zu müssen und vielleicht ihre Freundschaft aufs Spiel zu setzen. Aber ihn weiterhin zu belügen und im Glauben zu lassen, dass sie für ihn genauso empfand, wäre ihm gegenüber unfair. Letztendlich war sie ein Feigling.
Sarah spielte mit dem Stift in ihrer Hand und bemerkte entsetzt, dass sie auf einem Notizzettel Herzen mit einem „D“ gemalt hatte. Das letzte Mal, als sie Herzen zeichnete, war in der achten Klasse, als sie in einen Jungen aus ihrem Jahrgang verschossen war. Sofort zerknüllte sie das Blatt und warf es in den Papierkorb, der hinter ihr stand.
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