Um auf andere Gedanken zu kommen, ging sie um den Kassentresen und schlenderte zu einem der Bücherregale, um dort Platz für neue Bücher zu schaffen.
Morgen würde sie auf jeden Fall erst einmal zur Bank gehen, wie Richard ihr geraten hatte, in der Hoffnung, wenigstens eine Angelegenheit regeln zu können. Doch nun widmete sie ihre volle Konzentration ihrem geliebten Laden, der sich zunehmend mit Kundschaft füllte. Sarah hatte bis Ladenschluss alle Hände voll zu tun.
„Sie können jetzt ruhig gehen, Sarah. Ich komme hier auch ohne Sie klar. Ab mit Ihnen zur Bank. Ich drücke die Daumen“, sagte Frau Leitner ermutigend am nächsten Tag, schob Sarah förmlich aus den kleinen Laden, schloss die Tür und winkte ihr lächelnd hinterher.
Die Wollmütze tief ins Gesicht gezogen, streifte Sarah die Handschuhe über und steckte die Hände tief in die Manteltaschen. Ein eisiger Wind umwehte ihre Nase und den dunklen Wolken am Himmel nach zu urteilen, würde es bald wieder Schnee geben.
Sie liebte den Winter in den Bergen, alles sah so weiß und friedlich aus, nicht wie in Hamburg, wo die Winter überwiegend feucht, grau und zu mild waren. Aber dieser Wind, der wie eisige Körner auf ihrer Haut im Gesicht stach, war schrecklich. In Hamburg kannte sie kaum Tage, an denen es windstill war, aber hier verzerrte er einfach nur die schöne Idylle. Sehnsuchtsvoll lenkte Sarah ihre Gedanken zurück in die Heimat, sie vermisste die Eltern sehr.
Die Jensens besaßen einen kleinen Friseursalon in Altona und waren sehr eingespannt, da sie nur zwei Angestellte beschäftigen konnten, um sich über Wasser zu halten, denn die Konkurrenz war immens. Sie arbeiteten von Montag früh bis Samstag späten Nachmittag im Salon. Aus diesem Grund war es ihren Eltern fast unmöglich, sie hier in den Bergen zu besuchen. Das letzte Mal kamen sie nach Garmisch, um bei der Beerdigung ihrer Großmutter dabei zu sein, aber auch nur für zwei Tage.
Da Sarah nun eigens ein Geschäft führte, blieb ihr selber kaum Zeit, zu ihnen nach Hamburg zu reisen. Ob mit dem Zug oder mit ihrem kleinen Flitzer zu fahren, machte kaum einen Unterschied. Es war so oder so eine teure Angelegenheit. Das nötige Kleingeld konnte sie nicht einfach so aus den Ärmeln schütteln. Und den Laden eben mal für einige Zeit zu schließen, kam nicht infrage.
Deshalb telefonierten sie in regelmäßigen Abständen, meistens alle zwei bis drei Wochen. Doch die Gespräche dauerten nur kurz, da ihr Vater selten ans Telefon kam und ihre Mutter oft so kaputt von einem langen Arbeitstag war, dass sie wenig Lust zum Reden hatte. Offenbar war es an der Zeit, ihren Eltern einen Besuch abzustatten, wenigstens für ein Wochenende. Vielleicht im neuen Jahr, wenn das Hauptgeschäft vorbei war und Sarah ihren Laden für eine Woche wegen Inventur schloss. Darüber dachte Sarah im Moment nach, als sie sich durch die Fußgängerpassage in Richtung Leitnerbank und gegen den kalten Wind kämpfte.
Hin und wieder sah sie zu den vorbei eilenden Menschen hoch, die genau wie sie die Köpfe eingezogen hatten. Jeder schien es eilig zu haben und wollte nur an sein Ziel kommen, um dieser Kälte zu entfliehen.
Endlich erreichte sie das imposante Bankgebäude und verschwand sofort ins Innere des Hauses. Eine angenehme Wärme umfing sie. Sarah zog ihre Handschuhe aus, nahm Mütze und Schal ab und öffnete den Mantel. Langsam bewegte sie sich auf den Schalter links vom Eingang zu, da sie dort eine Angestellte erspähte. Ihr Blick wanderte in dem großen Raum umher, der gar nicht wie eine Bankfiliale aussah, sondern vielmehr wie ein Hotelfoyer. Der Fußboden war mit weicher rotgrauer Auslegware bedeckt und an der linken Seite stand eine große Fichte in weihnachtlichem Glanz geschmückt. Darunter lagen viele Geschenke in wunderschönem goldglänzendem Papier. Ein Hauch von weihnachtlicher Harmonie lag in der Luft. Überall leuchteten Tannengirlanden, die mit roten Christbaumkugeln behangen waren. Zu ihrer rechten Seite im Eingangsbereich standen zwei Sitzecken, die mit gemütlichen weißen Ledersofas und Sesseln ausgestattet waren. Sie kreisten kleine Glastische mit bunten Zeitschriften und Tellern voller Weihnachtsplätzchen ein. Kurz überlegte Sarah, ob sie nicht auch für ihre Kunden im Buchladen eine kleine Ecke zum Verweilen einrichteten und Plätzchen oder anderes Gebäck anbieten sollte.
Die hochgewachsene, schlanke blonde Frau am Schalter, die Sarah auf fünfundzwanzig schätzte, also genauso alt wie sie, begrüßte Sarah sehr freundlich und fragte nach ihrem Anliegen.
„Guten Tag, mein Name ist Sarah Jensen. Ich habe einen Termin mit Tom, ähm, Herrn Seiler“, fügte sie rasch hinzu.
„Ich werde Herrn Seiler ausrichten, dass Sie da sind. Nehmen Sie doch bitte so lange dort drüben Platz. Darf ich Ihnen irgendetwas Warmes zum Trinken bringen?“, fragte sie höflich, bevor sie zum Telefonhörer griff.
Dankend lehnte Sarah ab. Sie würde jetzt kaum etwas hinunter kriegen, so aufgeregt wie sie war, und ging hinüber zur Sitzecke. Sie machte es sich auf der gemütlichen Couch bequem und legte ihre Sachen neben sich auf eine Sessellehne. Vom Tisch nahm sie eine Zeitschrift und blätterte darin, ohne sich wirklich darauf zu konzentrieren. Ihre Nerven waren angespannt, sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie das vor ihr liegende Gespräch verlaufen würde. Ihre Chancen für einen Kredit schätzte sie auf vierzig zu sechzig.
Ihre Geduld wurde nicht länger auf die Probe gestellt, denn es dauerte keine fünf Minuten, da stand auch schon Tom in einem schicken grauen Anzug mit blauer Krawatte vor ihr. Erstaunt über sein professionelles Aussehen erhob Sarah sich und begrüßte ihren Freund mit einer herzlichen Umarmung.
„Hey, Sarah. Schön, dass du hier bist. Richard, also Herr Hochkamp, sagte mir, dass du heute kommst. Er hat mich bereits darüber informiert. Aber du siehst ja ganz verfroren aus. Kann ich dir einen Tee anbieten oder eine heiße Schokolade?“
Sarah, immer noch viel zu aufgewühlt, schüttelte den Kopf.
„Danke, ich bin viel zu aufgeregt.“ Von oben bis unten musterte sie ihren Freund anerkennend. „Schick siehst du aus, so kenne ich dich überhaupt nicht.“
„Dann wird es allmählich Zeit, dass du mal siehst, wo und wie ich den ganzen Tag meine Zeit verbringe. Na dann los, packen wir dein Problem an.“
Er hakte sich Sarahs Arm unter und führte sie um eine Absperrung herum durch einen langen Flur in eines der hinteren Büros.
„Das ist mein Reich. Ich teile es mir mit der Kollegin, die du am Schalter kennengelernt hast.“
Er nahm Sarahs Sachen und hängte sie an den Garderobenständer neben der Tür auf, die er anschließend verschloss. Dann schob er Sarah auf einen der Stühle und nahm selbst hinter dem Schreibtisch ihr gegenüber Platz.
„So, dann lass mal schauen, was ich für dich tun kann.“
Tom wirkte sehr geschäftig, als er seinen Computer hochfuhr, und schien voll und ganz in seinem Element, stellte Sarah Fragen und machte sich Notizen. Anschließend rückte er mit seinem Schreibtischstuhl zum Computer zurück und fütterte diesen mit Informationen und Zahlen. Zwischendurch stellte er ihr immer wieder ein paar Fragen, die Sarah ihm uneingeschränkt beantwortete.
Nach einer Stunde drehte er den Monitor so herum, dass sie nun ebenfalls einen Blick darauf werfen konnte.
„Schau mal, ich habe hier einen Vorschlag für dich, der es dir ermöglicht, deine Heizung reparieren zu lassen, damit du finanziell nicht am Ende bist.“
Sachkundig erläuterte er anhand von Zahlen, wie sich die Finanzierung gestalten, wie hoch ihre monatliche Belastung sein würde, wie Zins und Tilgung sich zusammensetzten. Sarah konnte seinen Ausführungen folgen und am Ende lehnte sie sich in ihrem Stuhl mit einem erleichterten Gesichtsausdruck zurück.
„Das hört sich ja gut an. Aber meinst du, ich bin überhaupt kreditwürdig?“
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